Erst lesen, dann den Keks essen
Vor vier Jahren habe ich den Samen für diese prachtvolle Bougainvillea gepflanzt. Ich hatte mir immer so eine gewünscht, aber keines der Pflänzchen hatte lange überlebt. Diese schon. Den Samen dafür habe ich einem unscheinbaren Lädchen in dem kleinen spanischen Ort, den ich heute meine zweite Heimat nennen darf, gefunden. Das Pflänzchen war damals keine zehn Zentimeter groß und ich konnte mir nicht vorstellen, dass es irgendwann einmal erwachsen sein würde. Vor vier Jahren führte ich noch ein anderes Leben. Eines, mit einem gutbezahlten Job, solider Sozialversicherung und einem großen und schönen Zuhause mit hoher Miete. Zusammen mit den Steuern und allem, was es sonst noch so braucht oder was man zu brauchen glaubt, löste sich der Lohn am Ende des Monats zuverlässig auf. Und ich fühlte mich wie all die Pflänzchen, die ich bislang nicht zum Erblühen brachte.
Lange habe ich mich in der „Es-geht-nicht-weil-Schlaufe“ gewunden, bevor ich endlich den richtigen Samen pflanzte. Ich ließ los. Bis dahin bin ich aber gefühlte 10’000 kleine und größere Schritte gegangen oder eher gewatet, durch den Schlamm der materiellen Oberfläche hindurch, bis ich eine Ahnung von der Fülle in mir selbst bekam. Und um diese Ahnung zu bekommen, brauchte es letztlich unfassbar wenig. Um es mit Loriot zu sagen: „Ich will hier einfach nur sitzen“.
„Du hast nicht zu wenig Zeit zum Meditieren, du hast zu wenig Zeit, weil Du nicht meditierst.“ Was hat mich dieser Spruch immer genervt. Ich hätte dann am liebsten geschrien: „Weißt Du eigentlich, was ich für einen Job habe? So eine 60-Stunden-Woche und immer erreichbar sein zu müssen macht sich nicht mal so schnell nebenbei!“. Diesen Schrei kann man mit beliebigem Inhalt aus der „Es-geht-nicht-weil-Schlaufe“ ersetzen. Mit Fülle hatte dies jedenfalls nicht viel zu tun, geschweige denn, dass irgendeine Erfahrung, die ich in dieser Zeit gemacht hatte, nährend oder erfüllend gewesen wäre.
Bis ich begann, mich morgens regelmäßig auf mein Kissen zu setzen und mit der Zeit folgendes zu beobachtete: Erfahrungen sind nährend, wenn ich meinen Empfindungen - ob angenehm, unangenehm oder neutral - erlaube, sich körperlich auszudrücken und sie damit vollkommen akzeptiere. Es geht darum, unsere Erfahrungen durch uns hindurchfließen zu lassen. Das gilt ebenso für das Gefühl der warmen Sonne auf der Haut wie für ein reinigendes Weinen.
Im Zen gibt es für dieses Hindurchfließen lassen zwei klare Anweisungen: Nichts tun! Raum geben! Es hat eine kleine Ewigkeit gedauert, bis ich zum ersten Mal wahrnehmen konnte, was geschieht, wenn ich diese vermeintlich einfachen Anweisungen wirklich mal befolge ohne in meinem diskursiven Geist erst einmal Lärm zu machen. Und siehe da: wenn ich all diesen Empfindungen erlaube, durch meinen Körper hindurchzufließen, fühle ich mich genährt.
Dieses Genährt Sein äußert sich bei mir tatsächlich im engeren Sinne des Wortes. Es ist wie das Gefühl in meinem Bauch, wenn ich gerade ein paar Löffel warmes Porridge mit viel Ghee, Vanille, Zimt und Kardamom gegessen habe. Dieses geborgene Haferflocken-Gefühl. Ich kann das aus Überzeugung sagen, nachdem ich viele Jahre lang in einer intensiven Phase der Selbstkasteiung auf nahezu alle leckeren Kohlehydrate verzichtete. Seit ich die Geborgenheit - auch, aber nicht nur in Form wohlriechender Kohlehydrate - wieder in mein Leben lasse, bin ich tatsächlich ein zufriedenerer Mensch.
Beim Genährt Sein geht es darum, etwas zur Erfüllung zu bringen, so, dass wir es fühlen können. Dazu gibt es einen schönen Koan-Satz: „Tu einfach Gutes und denke nicht an den Weg, der vor Dir liegt.“ Die Idee dieses Koan, sich in einem Moment nur auf eine Sache zu konzentrieren, ist ja nicht wirklich neu.
Du isst gerade einen Keks während Du diesen Text liest? Verstehe ich, ist total gemütlich, nährt aber nicht. Ich weiß wovon ich schreibe. Essen vor dem Fernseher war mal ein echtes Hobby von mir. Ich tue es auch heute noch, mit dem Ergebnis, dass ich zu viel esse und/oder nicht mehr weiß, welches Wetter für morgen vorausgesagt wurde, obwohl ich mir den Wetterbericht nach den Nachrichten angeschaut habe. Aber immerhin ist es mir bewusst, dass ich etwas tue, was mich gerade nicht nährt. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es auch ein Recht auf bewusste Unvernunft gibt. Wenn ich nicht ganz falsch liege, ist das auch ziemlich tantrisch.
Tun wir pro Moment nur etwas, dann haben wir die Möglichkeit, dass sich jeder einzelne Moment vollständig anfühlt. Und das macht richtig zufrieden. Wenn wir in der Natur spazieren, spazieren wir und nehmen mit unserem ganzen Aufmerksamkeitsbewusstsein wahr, was sich zeigt. Wenn wir telefonieren, telefonieren wir. Es ist praktisch, beides gemeinsamen zu erledigen. Dann haben wir den Spaziergang und das Telefonat erledigt. Finde den Fehler.
Fühlen wir uns nun wirklich genährt vom Spaziergang in der Natur? Und vom Gespräch, das wir mit der anderen Person geführt haben? Eigentlich unterbricht das Spazieren das Telefonieren und umgekehrt und keines von beidem fühlt sich vollständig an. Deshalb fühlen wir uns bei Multitasking kaum je genährt. Die Zufriedenheit des Vollständigen entgeht uns schlicht und einfach, weil wir zwei oder mehr Momente gleichzeitig mitverfolgen müssen, was wir ja bekanntlich auch gar nicht können. Wir tun nur so.
Von Moment zu Moment bei nur einer Sache sein bedeutet nichts weniger, als unserem Erleben zu erlauben, so zu sein wie es genau jetzt zu dieser Zeit ist. Einfach ausprobieren. Beispiel: ich schreibe diesen Text, von dem ich erwarte, dass er richtig gut werden muss, weil es ja der erste seiner Art sein wird und überhaupt, was werdet ihr alle von dem Text denken usw. usw.
Denke ich so, hole ich mir ständig einen Kaffee oder etwas zu futtern. Statt etwas aus mir herauszubringen stopfe ich etwas in mich hinein. Wenn ich diesem Text nun erlaube, einfach so zu sein, wie er ist, dann stellt sich bei mir ein ganz subtiles Loslassen der Spannung ein. In diesem Loslassen kommt etwas in die Fülle. Wenn der Text die Erlaubnis hat, so zu sein wie er ist, dann habe auch ich die Erlaubnis so zu sein wie ich bin. Kleiner Perspektivenwechsel, große Wirkung. Das kommt euch sicher bekannt vor.
All dies können wir auch von Lakshmi lernen, der wunderschönen Göttin der Fülle, die auf einer prachtvollen Lotusblüte sitzt. Mit Lakshmi ist materieller Wohlstand verbunden aber auch die tiefe Überzeugung, dass man im Inneren gut und wertvoll ist; Shri, die Essenz der Glückseligkeit. Es ist zweifellos hilfreich, die materiellen Grundlagen des eigenen Lebens (ein Dach über dem Kopf, Finanzen, Vorsorge etc.) im Griff zu haben und für sich selbst sorgen zu können. Und wenn es eng wird hilft es auch daran zu denken, wie gern man das tut, was man tut. Und falls nicht, die 10’000 Schritte zu gehen, um es zu ändern. Lakshmi symbolisiert auch das Hindurchfließen lassen. Wir können uns immer wieder öffnen für Intuition, Kreativität, Freude und Fülle.
Und wenn Du Dich nun fragst, wie man Fülle, Wohlstand und Freude in einer Welt leben soll, die uns mit einer Krise nach den anderen und politischen Verschiebungen, die nicht gerade Anlass zur Zuversicht geben, beglückt? Mir scheint, dass es nie wichtiger war, diese Werte zu leben.
Lakshmi erinnert uns daran, dass wir uns auch erlauben, die schönen Seiten des Lebens zu sehen. Dinge, die Dir Freude bringen, geben Dir Kraft, Dich so in der Fülle zu fühlen, dass Du gerade auch in schwierigen Zeiten geben kannst. Das Gute in sich selbst anzusammeln führt zu mehr Energie, es geht aber vor allem darum, diese Energie weiterzugeben. Dafür sind wir doch alle angetreten.
Hast Du schon einen Samen gepflanzt? Einen Samen, der irgendwann zur Fülle erblühen wird? Nach welcher Fülle Du Dich auch immer sehnst, sie wird nicht irgendwann einfach auftauchen. Wir müssen die Samen selber setzen, damit es blüht. Das ist wie bei der Kreativität. Sie trifft auch selten auf einen unvorbereiteten Geist. Um „einfach nur zu sitzen“ bin ich damals übrigens jeden Morgen um 5 Uhr aufgestanden. Soviel zu den 10’000 Schritten.
Wo der Weg meines Lebens hingeht, weiß ich noch nicht genau. Ich bin mir auch nicht mehr so sicher, ob es im Leben wirklich ums Ankommen geht. Ich weiß aber, dass wir nichts Außergewöhnliches erreichen müssen, um zufrieden zu sein. Fülle hat unzählige Facetten.
Was ich aber gelernt habe ist, das Leben immer wieder von Neuem durch mich hindurchfließen zu lassen. Damit wird das Wollen kleiner und die Welt immer grösser. Und es kann sich ein tiefes Gefühl von Vertrauen in das eigene Leben entfalten. Ein Gefühl von Zuversicht und Zufriedenheit, dass nicht so einfach wieder weggeht. Ein Gefühl von warmem Porridge im Bauch und einer in ganzer Fülle erblühenden Bougainvillea. Und dass ich nicht mehr morgens um 5 Uhr aufstehen muss, ist auch schön.
Marion Völger