Wenn die Zeit flexibel wird

Vor einigen Tagen las ich »Momo«, das wunderbare Kinderbuch von Michael Ende. Liest man Bücher, die einem als Kind viel bedeuteten im fortgeschrittenen Erwachsenenalter wieder, ist das oft so, als würde man sie zum ersten Mal lesen. Man versteht sie vor dem Hintergrund der ganzen Erfahrungen, die im Leben an einem kleben geblieben sind.

Ich erinnerte mich vor allem noch an die Schildkröte Kassiopeia. Ich mochte sie, weil sie gut zuhören, aber nicht sprechen konnte und Momo sie nur verstand, weil sie sich auf Kassiopeia einließ und wirklich wissen wollte, was Kassiopeia ihr zu sagen hatte.

Auch Momo konnte gut zuhören. Auf den ersten Seiten des Buches heißt es: »Momo konnte so zuhören, dass dumme Leute plötzlich gescheite Gedanken hatten.«

Ich hätte ja eine Menge Ideen, wo man Momo heute so hinschicken könnte, um die Welt zu retten. Aber hier soll es ja nicht um Politik gehen, sondern darum, wovon die Geschichte in der Hauptsache handelt: um die Zeit.

Spätestens in der Lebensmitte beginnt man sich unweigerlich mit dem Thema Zeit zu beschäftigen, nicht zuletzt aus einem ganz praktischen Grund: Man meint zu erkennen, dass sie abläuft.

Ich habe mich intensiv mit der Zeit befasst, aber nicht, weil ich einen Ausweg suche, sondern weil sich das Zeitempfinden im Laufe des Lebens verändert und ich verstehen wollte, weshalb. Und weil ich glaube, dass die Zeit ein wesentlicher Grund ist, weshalb wir uns im Leben mit Veränderungen so schwertun.

Nehmen wir mal das einfache Beispiel der Änderung von Gewohnheiten. Mal ehrlich, wie oft sagen oder denken wir: »Dafür habe ich keine Zeit«? Ich nenne hier bewusst keine Beispiele. Ich bin mir sicher, jede und jeder hat genügend Eigene. Was geschieht dann? Ist unser Geist in so einem Moment flexibel? Woran halten wir fest?

Ich las unzählige schlaue Bücher über die Zeit und bin schließlich bei »Momo« angelangt um festzustellen, dass dort eigentlich schon alles drinsteht.

Für alle, die sich vielleicht wie ich nur noch an die Schildkröte erinnern können, hier eine ganz kurze Zusammenfassung:

Das Mädchen Momo lebt allein in einem halbverfallenen Amphitheater am Rande einer großen Stadt, die von Zeitdieben beherrscht wird. Sie tragen graue Anzüge, haben graue Gesichter und überreden Menschen dazu, ihre Zeit bei einer Zeit-Spar-Kasse zu deponieren. Die Menschen sollen künftig ihre kostbare Zeit nicht mehr mit der Familie oder mit Freunden oder zeitraubenden Dingen wie Lesen oder Nachdenken verschwenden, sondern diese Zeit ansparen.

Die Zeitdiebe rechnen den Menschen vor, dass ihre Zeit bald abläuft, weil sie den Großteil ihrer Lebenszeit bereits verbraucht hätten. Sie spielen so mit ihrer Angst und stellen ihnen zudem Ruhm und Reichtum in Aussicht, wenn sie ihre Zeit deponieren.

Es kommt, wie es kommen muss: Die Menschen verdienen mehr Geld, weil sie ihre Zeit nicht mehr »verschwenden«, sie kaufen sich mehr Dinge, denen sie wiederum hinterherarbeiten müssen, haben deshalb immer mehr Termine und keine freie Zeit mehr. Irgendwann fühlen sie sich leer, unzufrieden mit sich und der Welt und schließlich fühlen sie gar nichts mehr.

Mithilfe der uralten und sehr langsamen Schildkröte Kassiopeia und dem Verwalter der Zeit, Meister Hora, gelingt es Momo am Ende der Geschichte aber glücklicherweise, die gestohlene Zeit der Menschen aus der Zeitsparkasse zu befreien.

Neben Kassiopeia erinnere ich mich noch daran, dass ich dieses Konstrukt als Kind ziemlich absurd fand. Jedenfalls konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich ein Mensch auf so etwas einlassen würde. Es kam anders.

Und mit ebendieser Erfahrung, die an mir klebt, glaube ich, dass unsere heutige Vorstellung von Zeit ein großes Missverständnis ist.

Gerne glauben wir, die Zeit sei eine mechanische Abfolge von Tagen, Stunden, Minuten und Sekunden. Wir glauben, man könne sie zählen, sparen (!), verkaufen oder besonders viel hineinstopfen. Was daraus resultiert sind endlose Zeitmanagement-Tipps, wie wir mit den durchschnittlich 4000 Wochen unseres Lebens effizient umgehen sollen.

Idealerweise sollen wir unsere wertvolle Zeit mit irgendwelchen Geräten einsparen (!). Ich habe bisher wenige solche Geräte kennengelernt, die mir nicht mehr Zeit stehlen als vorgeblich einsparen. Altbewährte Haushaltgeräte wie Herd, Backofen und die Waschmaschine mal ausgenommen.

Eine Schlüsselszene im Buch »Momo« ist für mich der Moment, indem Meister Hora Momo ins Innere ihres Herzens führt, um ihr zu zeigen, wo und wie die wirkliche Zeit entsteht. Sie erlebt, wie ihre eigene kostbare Lebenszeit von Augenblick zu Augenblick durch den Einklang ihres Herzschlags mit dem Rhythmus des Universums erzeugt wird. Ihre ganz persönliche, einzigartige Zeit entfaltete sich in jeder Stunde in Form einer neuen Blume, von denen keine der anderen gleicht. »Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen«, so Meister Hora.

Die Wissenschaft erklärt unsere Zeitwahrnehmung ganz ähnlich.

Je mehr Impulse wir in einer gewissen Zeitspanne mit unseren verschiedenen Sinnen wahrnehmen, umso mehr vergessen wir die Zeit. Im ersten Moment denken wir vielleicht, die Zeit rast. Aber weil durch die sinnliche Intensität so viele Eindrücke bleiben, dehnt sie sich in unserer Erinnerung.

Unsere Sinne verschließen sich, wenn wir unseren inneren Rhythmus nicht mehr mit den äußeren Anforderungen in Einklang bringen können. Das können wir immer dann wahrnehmen, wenn wir im Erledigungsmodus sind. Die Zeit läuft uns davon, ohne uns eine Erinnerung zurückzulassen. Das sind diese Tage, an denen wir erschöpft nach Hause kommen und keine Ahnung mehr haben, womit wir eigentlich unsere Zeit verbracht haben.

Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen. Wenn ich also meine, keine Zeit zu haben, bedeutet dies, dass ich kein Leben habe. Darüber kann man sich ja mal Gedanken machen. Durch Zeitmanagement löst sich das jedenfalls nicht auf.

Es gibt aber ein anderes Mittel, und das ist ganz einfach (wie im Übrigen alle guten Dinge im Leben): unser Körper.

Achten wir beispielsweise in der Achtsamkeitsmeditation auf unseren Atemrhythmus, dehnt sich die subjektive Zeit mit jedem Atemzug. Den nächsten Schritt machen wir auf unserer Matte. Mit jeder achtsamen Bewegung erinnern wir uns wieder an den Rhythmus unseres Körpers und holen uns so in der Tiefe erlebte Lebenszeit zurück. Das ist doch mal ein gelungenes Longevity-Konzept.

Und wenn wir gerade beim Thema Longevity sind, an dem man ja im Moment kaum vorbeizukommen scheint; auch Meister Hora hatte hier schon einen Vorschlag: »Hätten die Menschen keine Angst mehr vor dem Tod, so könnte ihnen niemand mehr die Lebenszeit stehlen.» Auch darüber kann man sich Gedanken machen.

Die Lektüre von »Momo« hat mir auch bewusst gemacht, dass das Phänomen »Ich habe keine Zeit« nur sehr bedingt mit unserer zweifellos beschleunigten Zeit zu tun hat. Das Buch ist im Jahr 1973 erschienen, als das Internet, das Smartphone, Streamingdienste und Social Media noch weit weg waren. Dennoch ist es aktueller denn je.

Es ist nicht so, dass wir keine Zeit haben. Die Wahrnehmung der Zeit ist unser Problem.

Wollen wir die Zeit als erlebte Zeit wahrnehmen, dann können wir einfach damit beginnen, bewusst zu atmen. Und ganz allmählich haben wir wieder Zeit, weil wir sie zulassen, fließen lassen, sein lassen oder meinetwegen auch loslassen.

Marion Völger

www.silentmoves.blog

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Die Sehnsucht nach Lebendigkeit