Die Sehnsucht nach Lebendigkeit
Der Juni gehört in meinem spanischen Zuhause zu den schönsten Monaten. Alles blüht in voller Pracht, die Temperaturen sind noch sehr angenehm und die Moskitos üben noch. Und da noch keine Urlaubszeit ist, ist es wunderbar ruhig.
In den letzten beiden Monaten habe ich mir Rückzug verordnet, da ich an einem Buch schreibe, das fertig werden möchte. Ich weiß, dass ich in solchen Momenten eine Tagesstruktur brauche, die mich nicht allzu sehr aus meinem Schreibfluss bringt. Ich verbringe deshalb meine Tage weitgehend mit Schreiben, Lesen, langen Spaziergängen und Yin Yoga. Letzteres hat sich verletzungsbedingt als momentan gute Praxis für mich herausgestellt. Außerdem bringt es mich tiefer ins Schreiben.
Jeden Tag mache ich denselben langen Spaziergang. Er führt mich durch unser kleines Dorf an den Fluss und weiter mitten durch die Dünen Richtung Strandpromenade. Es ist keine dieser üblichen Promenaden mit Geschäften, Cafés und Lärm. Tatsächlich kann man dort nur spazieren. Bis auf zwei kleine Strandbars ist es ruhig, und wenn es nicht gerade August ist, spaziert man hier meistens alleine.
Die Promenade führt entlang der Dünen und trennt diese durch ein kleines Mäuerchen. Entlang dieses Mäuerchens, wo sich ab und zu ein wenig Wasser sammelt, wachsen kleine unspektakuläre Pflanzen, meistens Gräser. Wenn man aber genau hinschaut - was ich bislang nie getan hatte - entdeckt man plötzlich kleine Wunder.
Es waren ganz kleine Blümchen, die meine Aufmerksamkeit erregten. An einer Blüte mischten sich goldgelbe und dunkelviolette Miniblüten zu einem bunten Muster und jede Menge Insekten tanzten um das bunte Kunstwerk herum.
Violett und goldgelb sind Komplementärfarben, sie sind so verschieden, wie es nur geht. Wenn man sie in einer Farbpalette nebeneinander anordnet, werden sie beide dadurch kräftiger. Bereits Goethe beschrieb dieses Phänomen im Jahre 1810 in seiner Farbenlehre. Komplementärfarben sind etwas Magisches. Schaut man beispielsweise lange auf ein gelbes Blatt und danach auf ein weißes, nimmt man dieses eine Zeit lang als violett wahr. Das lässt sich wissenschaftlich erklären (man nennt es energetische Reziprozität) und auch, dass sich unser Gehirn von Komplementärfarben angezogen fühlt. Die Magie gefällt mir aber besser.
Auch auf Bienen scheint diese Kombination der Komplementärfarben einen besonderen Reiz auszuüben. Wie ich später bei einer kleinen Recherche herausfinde, kommt die Kombination von violett und gelb deshalb in der Natur oft vor.
Bislang hatte ich mich immer geweigert, mir die Namen von Pflanzen zu merken. Ich verbuchte dies als unnützes Wissen, das meine Speicherkapazität unnötig belastet. Nun bin ich aber doch neugierig und finde heraus, dass es ich bei den gelb-violetten Kunstwerken um Wandelröschen handelt. Allein der Name ist hübsch.
Und siehe da, seit die Wandelröschen einen Namen haben, erscheinen sie mir plötzlich in einem ganz neuen Licht. Bisher hatte ich sie eher als unscheinbare Farbtupfer in einem undefinierbaren Pflanzengewusel wahrgenommen. Nun hatte ich den Eindruck zu hören, wie die Röschen mit den Bienen sprachen und wahrzunehmen, wie die Pflanzen, Tiere und andere Organismen rundherum miteinander verwoben waren.
Beschwingt von dieser Erfahrung, machte ich auf jedem Spaziergang neue Entdeckungen und beobachtete, wie sich die Natur ganz langsam veränderte und beständig erneuerte. Immer intensiver nahm ich eine Verbundenheit wahr, die mir bisher fremd war.
Was mich an dieser frühsommerlichen Erfahrung beeindruckt ist, wie man sich in einer gut organisierten Langeweile, wie ich sie seit Wochen lebe, immer lebendiger fühlen kann. Man muss also definitiv nichts tun, um sich lebendig zu fühlen, sondern einfach genau hinschauen und zuhören.
Wir können so viel lernen, wenn wir die Natur beobachten, das zeigt uns schon der Ayurveda. Nach der ayurvedischen Lehre lässt sich das Leben des einzelnen Menschen vom Kosmos und der Natur nicht trennen. Alle Beobachtungen und Vorkommnisse aus unserer Umwelt existieren in uns. Wenn wir spüren können, dass wir in den Kreislauf der Natur eingebunden sind, bekommen auch unsere eigenen Aufs und Abs schließlich einen Sinn. Die Natur spiegelt uns diesen Sinn deutlich wider, und das Gefühl des Getrenntseins wird leiser.
Oft denken wir, man müsste sich neu verlieben, eine Weltreise machen, einen neuen Job in Angriff nehmen oder einfach ganz lange Urlaub machen, um sich wieder lebendig zu fühlen. Richtig daran ist, dass Lebendigkeit das Gegenteil von Routine ist. Oft erstarren wir in der unbewussten Wiederholung uns bekannter Abläufe. Wir stehen auf, trinken Kaffee, gehen zur Arbeit, essen am Mittag unseren Salat aus der Tupperdose vor dem Bildschirm und abends gehen wir nach Hause und glauben uns auf dem Sofa bei einer Serie zu entspannen. Ich gebe es zu, ich spreche aus jahrelanger Erfahrung.
Eigentlich wissen wir ja, dass ein Spaziergang jetzt hilfreicher wäre. Denn genau hier wäre die Chance, uns auch in einem routinierten Alltag lebendig zu fühlen. Lebendigkeit entsteht, wenn uns eine Bewegung, eine Begegnung oder eine Berührung überrascht. Lebendig sein kann man deshalb nicht für sich alleine. Es braucht dafür aber auch nicht zwingend andere Menschen. Resonanz entsteht auch durch eine Verbindung mit Pflanzen, Tieren, einem Sonnenuntergang oder dem Rauschen des Windes in den Baumwipfeln an einem lauen Sommerabend.
Jeder so bewusst gelebte Moment bietet uns die Chance, wieder von Neuem anzufangen, schöpferisch zu werden und sich lebendig zu fühlen. Schöpferisch zu werden bedeutet für mich, Vertrautes in etwas Neues zu verwandeln und Neues zu etwas Vertrautem werden zu lassen, wie die Wechselröschen.
Damit unsere Lebensenergie (Prana) fließen, strömen und pulsieren kann, braucht es immer zwei Pole. Das Leben ist ein Tanz zwischen Risiko und Sicherheit, Verwandeln und Bewahren, Offenheit und Zusammenhalt, Handlungskraft und Beständigkeit. Das können wir auf auch der Matte üben, indem wir unserer gegensätzlichen Ausrichtung bewusstwerden und dann Methoden finden, um sie auszugleichen. Immer wieder von Neuem. Meiner Vata-Pitta-Konstitution kommt Yin-Yoga wohl auch deshalb sehr entgegen. Zwei Komplementärfarben, sozusagen.
Eigentlich suchen Menschen instinktiv nach dem, was komplementär zum eigenen Sein ist. Teil unserer Yogapraxis mit allen Umwegen, Irrungen und Wirrungen ist, dass sich dieser Prozess bewusst vollzieht. Wir müssen herausfinden, welche Anteile in uns dominant sind, und welche im Schatten liegen. Immer wieder von Neuem.
Wenn keine der Polaritäten mehr dominant ist, wird die Mitte (Madhya) erfahrbar und wir finden den Ort, wo unsere Kraft ruht. Ob das dieser Moment war, als ich die Wandelröschen mit den Bienen sprechen hörte? Vielleicht.
Ich glaube, für mich Folgendes herausgefunden zu haben: Will ich die Kraft des Lebendigen spüren, muss ich bereit sein, immer wieder von Neuem anzufangen. Und dies geschieht in einer gelungenen Beziehung zur Welt. Also spaziere ich einfach mal weiter.
Marion Völger