Der Raum der Präsenz

Ich bin großartig darin, mir mit Plänen jede Menge Stress zu verursachen. Ich nehme mir etwas vor (ein Buch schreiben, regelmässig meditieren, mein Fahrrad reparieren) und schiebe es in einer Endlosschleife hinaus, weil ich meine, immer noch mehr über das, was ich eigentlich tun will, wissen zu müssen. So las ich beispielsweise unzählige Bücher über Meditation, bis ich endlich regelmäßig anfing, zu sitzen.

An den Tag, an dem ich mich dann einfach hinsetzte und atmete, kann ich mich noch sehr genau erinnern. Und auch daran, dass zwischen all den gelesenen Büchern und der Umsetzung Jahre lagen. Etwas verändert hat sich aber genau ab dem Tag, an dem ich es einfach tat.

Das Fiese ist ja, dass wir während all der Zeit des Vorbereitens und Planens meinen, dass wir eigentlich an dem, was wir tun oder verändern wollen, dran sind. So las ich einige Zeit lang zahlreiche Biografien berühmter Schriftstellerinnen und fühlte mich alleine deshalb kurz davor, den großen Bestseller zu schreiben.

Eine Variante wäre nun, ein Selbsthilfebuch aus der Abteilung »Einfach tun«, »Heute fange ich an«, »Heute ist das neue morgen« oder Ähnliches zu lesen. Der Umstand, dass es nicht gerade wenige dieser Bücher gibt, lässt mich vermuten, dass ich nicht alleine bin mit diesem Problem. Aber eben, Bücher lesen hilft hier nicht weiter.

Stattdessen habe ich für mich ein anderes Hilfsmittel entdeckt, wenn ich mich mal wieder in so einer Unmittelbar-davor-Endlosschlaufe befinde: Ich mache einen Anfängerinnen-Tag. Ich tue alles, als ob ich es zum ersten Mal in meinem Leben tun würde. Diese Tage beginnen, indem ich nicht einfach aufstehe, Zähne putze und Wasser trinke, ohne wirklich zu merken, was ich da tue. Diese Tage sind anders.

Ich wache auf und strecke mich erst einmal genüsslich im Bett. Dann stelle ich mir erst einmal die Frage, wie es mir geht. Die Antwort ist nicht immer so einfach. Sich selbst kann man diese Frage ja nicht mit «Ganz gut, danke.» beantworten.

Nach ein paar tiefen Atemzügen setze ich mich auf die Bettkante und stelle die Füße auf dem Boden so auf, dass ich spüren kann, wie sich die Fußsohle mit dem Boden verbindet. In der Küche bereite ich mir meinen Ingwer-Kurkuma-Tee zu. Das tue ich jeden Tag. Aber an diesen Tagen spüre ich bewusst die Beschaffenheit der Wurzeln, und wenn ich sie sie reibe, nehme ich den scharf-süßlichen Geruch wahr.

Sitze ich schließlich mit dem fertig zubereiteten Tee am Küchentisch, ist erstaunlicherweise gar nicht viel mehr Zeit vergangen, als an einem normalen Morgen, an dem dasselbe einfach geschieht. Aber es fühlt sich an, als hätte ich schon richtig viel erlebt. Habe ich auch. Erfahrung findet immer im Jetzt statt.

Was geschieht in solchen Momenten? Die Wahrnehmung der Zeit verändert sich. Sie fühlt sich eher nach einem Raum als nach einem Zeitstrahl an. Darin liegt ein riesiges Potenzial für die Verfeinerung unserer Erfahrung. Mir gefällt die Vorstellung, dass Präsenz ein Raum ist, also so viel mehr, als der gegenwärtige Augenblick.

Als ich vor vielen Jahren meine erste Yogalehrerinnenausbildung absolvierte, beschloss meine damalige Yogalehrerin fast jede Meditation mit der Aussage: »Im Hier und Jetzt ist alles gut«. Es sollten viele Jahre vergehen, bis ich diese Aussage nur im Ansatz verstand.

Hinweise fand ich im Buddhismus, als ich erstaunt feststellte, dass es einen Unterschied zwischen »Gegenwart« und »Präsenz« gibt. Nach dieser Vorstellung ist die Gegenwart ein winziger Jetzt-Punkt auf einer linearen Zeitachse. Dieser Punkt ist nicht greifbar und wir können ihn auch nicht wirklich erleben. Sobald ein Jetzt erscheint, wird es bereits durch den nächsten Moment ersetzt und damit zur Vergangenheit.

Die Gegenwart ist also nie weit weg. Wir sind immer nur durch einen einzigen Gedanken von ihr getrennt. Dieser einzige Gedanke besteht nicht selten in einer »Um-Zu-Überlegung«. Wie oft überlegen wir uns, ob das, was wir tun, uns etwas nützt. Zum Beispiel: Ich meditiere jeden Morgen, um glücklicher und zufriedener zu werden. Unser Denken ist darauf ausgerichtet, dass eine Erfahrung einen Mehrwert in der Zukunft hat. Aber der Nutzen einer Sache besteht doch eigentlich in der Empfindung derselben.

Die Frage der Nützlichkeit stellt sich nicht für die Zukunft, sondern vielmehr für die Gegenwart. Und diese ist kein verbesserungswürdiger Mangelzustand, wie wir es gern glauben. Es geht darum, die Gegenwart zu erleben, sonst kann daraus nichts Neues entstehen, weil einfach die Tiefe fehlt.

Wenn wir achtsam werden und den gegenwärtigen Moment mit Aufmerksamkeit durchdringen, verändert sich die erlebte Gegenwart. Empfindungen wie der Duft eines Kaffees am Morgen bekommen durch Achtsamkeit eine ganz andere Bedeutung und vor allem einen Raum.

Lassen wir uns an diesem Punkt noch tiefer ein, können wir erkennen, dass der Geist selbst immer gegenwärtig ist. Und genau jetzt (!) verwandelt sich der abstrakt scheinende Jetzt-Punkt in Präsenz. In meinem Empfinden öffnet sich hier ein Raum, in dem sich die Aufmerksamkeit auf eine gegenwärtige Empfindung auf wundersame Weise ausdehnt. Ich nenne es den Raum der Präsenz. Der Zen-Meister Dogen drückt dies sehr viel präziser aus: »Das Wort Jetzt existiert nicht, bevor die Praxis nicht zu einem Kontinuum geworden ist«.

Befinden wir uns im Raum der Präsenz, können wir das, was wir tun, von innen her betrachten. Dieser neue Blickwinkel verändert die Wahrnehmung. Man schaut nicht von außen auf etwas, sondern man nimmt die Beziehung zwischen den Dingen wahr. Wir schauen nicht, wie unsere Füße auf dem Boden stehen, sondern wir nehmen ganz bewusst die Verbindung zwischen unseren Füßen und dem Boden wahr.

In den Raum der Präsenz komme ich nicht, indem ich die Gedanken loslasse, wie dies in Meditationen so gerne angeleitet wird. Mir hilft da schon eher eine Analogie, wie man sie bei den Buddhisten und auch bei den Stoikern findet: Die Welt ist wie trübes Wasser. Um sie durchblicken zu können, müssen sich die Dinge erst einmal setzen.

Um diesen Weg zur Klarheit zu finden, muss man nicht einmal yogische Schriften lesen, das steht schon im Duden: «Bewusstheit ist der Zustand geistiger Klarheit, voller Herrschaft über seine Sinne.» Entgegen aller Wohlfühl-Seminare muss ich hier feststellen: Abschalten bringt gar nichts. Wahrscheinlich sollten wir eher einschalten.

Interessante Ansätze dazu finden sich wiederum im Zen-Buddhismus. Zen-Schülerinnen und Schüler bekommen Denkaufgaben (Koans), die rational nicht gelöst werden können. Zur Lösung dieser Aufgaben benötigt man einen radikal offenen Geist. Ein bekanntes Koan lautet: «Wie klingt es, wenn nur eine Hand klatscht?» So eine Frage lässt sich nicht so einfach beantworten, und genau darum geht es auch. Über so eine Frage müssen wir nachdenken, und zwar langsam. Manchmal tage-, wochen- oder auch jahrelang. Irgendwann kommt der Moment, indem alles klar ist, man weiß es einfach. Eine grundlegende Wahrheit wird offensichtlich und unausweichlich.

Der einzige Ort, den ich kenne, an dem trübes Wasser klar wird, ist die Stille. Nur die Stille macht es möglich, dass sich der Schlamm setzt. Um in die Stille zu gehen, gibt es verschiedene Wege: die Natur, die Meditation, aber auch die bewusste Bewegung. Hat sich der Schlamm gesetzt, geht es darum, sich zu verlangsamen und nachzudenken, und zwar regelmäßig.

Ich tue dies oft, indem ich für einen Moment die Gedanken unkontrolliert herumwandern lasse, ohne mich darin zu verstricken. So, wie wenn ich einen Film schauen würde. Zu Beginn kommt meistens ganz viel Alltag. Einkaufslisten, zu erledigende Mails, Sorgen. Man muss sich ein bisschen Zeit lassen, bis der Moment kommt, indem man etwas Interessantes entdeckt.

Unglaublich, was da manchmal so aus dem vermeintlichen Nichts auftaucht. Ich sah schon Schneewittchen und die sieben Zwerge. Sie waren vor sehr langer Zeit das Motiv auf meiner Bettwäsche. Und plötzlich spürte ich in meinem Inneren Antworten, von denen ich nicht wusste, dass ich sie vergessen hatte. Ich dachte sie nicht, ich spürte sie. Und die Fragen dazu stellte ich mir schon lange. Ich hatte schon unendlich viele Morgenseiten gefüllt mit dem Versuch, sie zu beantworten. Schreiben ist im Übrigen ein wunderbarer Weg, das Denken zu verlangsamen.

Investieren wir Zeit und mentale Energie, finden wir nicht nur etwas, das für uns interessant ist. Wir finden auch das Wahre. Etwas, das wir bisher übersehen haben. Solche Perlen muss man aus der Tiefe heben, aus dem Raum der Präsenz.

Marion Völger

www.silentmoves.blog

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