Die Mitte erfahren mit Ganesha
Ich mag die altindischen Mythen. Dort wird nicht argumentiert, sondern präsentiert, und dies oft sehr unterhaltsam. Dieses Rezept ist auch in der Welt des Schreibens bekannt. Dort heißt es: „Show, don’t tell“. Nicht erklären und analysieren, sondern den Menschen Geschichten erzählen, die sie fühlen können. Man sagt, dass gute Literatur darin besteht, dass wir beim Lesen etwas erleben, das wir bisher noch nicht in Worte fassen konnten, weil wir es noch nicht verstanden hatten. Vorsicht: meist sind das nicht die angenehmen Dinge. Und genau so ist es auch bei den Mythen.
Die Mythen aus der spirituellen Tradition des Yoga können uns viel lehren. Sie sind teilweise so schräg, dass wir uns problemlos von unseren festgefahrenen Denk- und Verhaltensmustern lösen können, wenn wir uns auf sie einlassen.
Beginnen sollte man immer mit Ganesha. Ganesha ist unter den indischen Gottheiten der Sympathieträger Nummer 1. Er räumt alle Hindernisse aus dem Weg. In Indien haben die meisten Menschen eine Ganesha-Figur im Auto und wer den indischen Straßenverkehr kennt, weiß weshalb. Aber nicht nur deshalb ist Ganesha so beliebt. Er repräsentiert Reichtum, Wohlstand und Fülle und steht für weltliches Glück. Ebenso gilt er als Gott der Poesie, Schrift, Literatur und der Wissenschaften. Zudem ist er gütig, freundlich und humorvoll. Mit seinem knuddeligen und gelenkigen Körper weiß er Nachgiebigkeit und Strenge auszugleichen. Und damit sind wir so langsam beim Thema. Ganesha kann uns viel über Balance lehren.
Es gibt noch einen weiteren Grund, Ganesha zu mögen: Er ist ein ausgeprägtes Schleckmaul. Einmal aß er so viel Kuchen, dass sein Bauch fast platzte. Auf seinem Pferd, das tatsächlich eine kleine Maus war, trat er sehr gesättigt den Heimweg an. Mit seinem vollgestopften Bauch hatte er große Mühe, auf der kleinen Maus das Gleichgewicht zu behalten, und so wackelten die beiden sehr langsam voran. Plötzlich tauchte eine Kobra auf und die kleine Maus erschrak sich so sehr, dass Ganesha hinunterpurzelte. Dabei platzte sein Bauch auf und es regnete Unmengen von Kuchenstücken. Verärgert sammelte Ganesha die Kuchenstücke wieder zusammen, stopfte sie zurück in seinen Bauch und band sich die Kobra um, damit die Kuchen nicht wieder herausfielen.
Chandra, der Mond, schaute sich das Ganze von oben an, amüsierte sich köstlich über das Schauspiel und lachte laut über den ungeschickt herumplumpsenden Ganesha. Dies machte Ganesha so wütend, dass er einen seiner beiden Stoßzähne abbrach, Richtung Mond schleuderte und traf. Daraufhin löschte Chandra sein Licht und Ganesha verfluchte den Mond, sodass er nie wieder scheinen konnte. Nun war die Erde ununterbrochen dem gleißenden Licht der Sonne ausgesetzt.
Ganesha verkroch sich daraufhin in seinem Palast. Eine Gruppe von Göttern brachte ihn schließlich dazu, den Fluch vom Mond zu nehmen, da ein Leben ohne Nacht, Morgen- und Abendröte unerträglich war. Ganesha lenkte ein, machte aber zur Bedingung, dass der Mond ab- und zunehmen müsse und nur alle vier Wochen als Vollmond erscheinen dürfe. Nie wieder sollte der Mond über ihn lachen. Das sollte ihm eine Lehre sei. Ganesha blieb als Erinnerung an die unerfreuliche Geschichte sein abgebrochener Stoßzahn.
Zu Ganeshas Stoßzahn gibt es noch weitere Geschichten. Auch das ist so schön an den indischen Mythen. Man kann sich immer aussuchen, was gerade passt.
Was lernen wir aber nun aus dieser Geschichte? Wo nur Sonnenschein ist, gibt es keine Sanftheit und keinen Schatten. Oft verspüren wir diesen Wunsch, dass doch bitte einfach mal alles in Ordnung sein möge im Leben. Das ist es ja nie, irgendwas (oder auch etwas mehr) ist immer. Der Gedanke an den immerwährenden gleißenden Sonnenschein ist deshalb auch tröstlich. Ohne Abend- und Morgendämmerung fehlen die Übergänge, die den Ausgleich und die Balance zwischen Tag und Nacht bilden. Diese Gegensätze können wir auch in unserem Körper spüren: den Mond im linken Energiekanal (Ida nadi) und die Sonne im rechten (Pingala nadi). Idealerweise suchen wir das Gleichgewicht zwischen beiden Energiequellen, bei allem, was wir tun. Und genau dieses Zwischen macht unsere Yogapraxis so interessant.
Letztlich geht es um das Finden des Ausgleichs in unserem Leben. Anregungen dazu finden wir fast überall auf der Welt. So ist die „goldene Mitte“ eine der wenigen universellen Regeln, die es gibt. Wir finden sie in der Bhagavad Gita, in der Lehre von Yin und Yang des chinesischen Dao oder auch in Japan, wo der Zwischenraum (Ma) eine sehr weitreichende Bedeutung hat und unter anderem für das Innehalten steht. Das Dazwischen, also die Leere, gibt allem was ist seine Bedeutung.
Aber was allgemein bekannt ist, ist noch lange nicht einfach. Deshalb lohnt es sich, die Mitte und das Dazwischen in der Tiefe zu erkunden.
Im Sanskrit wird die Mitte als madhya bezeichnet. Eine der ältesten tantrischen Schriften, das Vijnana Bhairava (VBT), ist eine wahre Schatzkiste, will man in das Thema tiefer eintauchen. Im Vijnana Bhairava geht es nicht nur um das Finden, sondern um das Öffnen oder Entfalten der Mitte.
Die meisten Übungen, die sich auf die Mitte konzentrieren, verlangen ein verfeinertes Bewusstsein, um das Zwischen zu entdecken, darin einzutauchen, es zu entfalten: zwischen zwei Atemzügen, zwischen zwei Gedanken, zwischen zwei Bewegungen. Konzentriert man sich auf die Mitte zwischen zwei Zuständen, und lässt diese los, dann leuchtet die Wirklichkeit in der Mitte auf (VBT, Vers 61). In diesem Zwischen erfahren wir einen Moment der Stille und der Ausgeglichenheit. Das ist der Moment, in dem wir beginnen, vom Mittelpunkt aus zu leben, also vom Herz als die mystische Mitte. Ich stelle mir das ein wenig vor, wie das Paradies.
Dieses Paradies gibt es bisher leider nur in meiner Vorstellung. Ich warte schon lange darauf, dass ich ihm begegne. Genauer gesagt anlässlich jeder Meditation und somit jeden Tag. Aber das ist wohl genau das Problem. Das Warten.
Eigentlich warte ich sehr ungern, weil ich dabei immer das Gefühl habe, dass mir jemand meine Zeit klaut. Und irgendwie erwartet man ja beim Warten auch immer irgendetwas. Wahrscheinlich wäre es hilfreich, einfach mal auf Nichts zu warten, um dem Moment zwischen zwei Gedanken näher zu kommen. Aber geht das überhaupt? Warten auf Nichts?
Ein Blick in die Sprachgeschichte ist hier durchaus erhellend. Bis etwa ins 14. Jahrhundert bedeutete warten, «seinen Blick auf etwas richten» oder «seine Aufmerksamkeit worauf richten». Bildlich gesprochen ist das ja heute noch so. Beobachtet man wartende Menschen, so wird man kaum jemanden sehen, der nicht auf sein Smartphone starrt und hofft, die verlorene Zeit darin wiederzufinden. Warten, wie wir es heute verstehen, ging aus der Vorstellung hervor, jemandem oder etwas entgegenzusehen. Man erwartete das, worauf man blickte und hoffte, dass es eintritt oder eben nicht. Kaum zufällig wird im Spanischen für warten und hoffen dasselbe Verb verwendet: esperar.
Es ist also erst die Erwartung, die sich aus diesem Hoffen ergibt, die das Warten mit Inhalt füllt. Unser Bedürfnis, alles mit Inhalt zu füllen gilt deshalb leider auch für das Warten.
Auf dem Weg in die Mitte wäre es aber einen Versuch wert, ohne Erwartung zu warten, sofern man zwischen zwei Atemzüge oder zwei Gedanken fallen und die Stille und die mystische Mitte erkunden möchte. Vielleicht müssten wir dazu unser Verhältnis zur Zeit überdenken. Solange wir die Zeit als Dauer begreifen, werden wir das erwartungsvolle Warten kaum los. Wir müssten stattdessen einfach interessiert beobachten ohne diese ganzen berechnenden und leistungsorientierten Ideen. Das wäre der Weg in das Dazwischen, also die Leere, die allem was ist, seine Bedeutung gibt.
Üben können wir das alles glücklicherweise auf der Matte. Im letzten Blogbeitrag ging es darum, wie wir wachsen. Das tun wir immer dann, wenn wir uns von Innen öffnen, aus dem Zustand der Mitte, verbunden mit der Leere.
Wir können dies in verschiedenen Asanas erfahren. Im letzten Blog hatte ich Vrkasana (Baum) erwähnt. Kleine Erinnerung: Für das Spüren der Mitte hilft uns das Anusara-Prinzip Root to Rise, das mit der organischen Energie verbunden ist. Die Energie wird aus dem Fokuspunkt nach unten zum Fundament der Haltung geschickt. Dann geschieht auf wundersame Weise eine Aufteilung der Energie und die Haltung wird von Innen geöffnet, aus der Mitte. So entsteht die Stabilität im Fundament und das Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit.
Das lässt sich auch wunderbar in Ardha-Chandrasana (Halbmond) spüren. Im Zweifel Unterstützung in Anspruch nehmen: An der Wand üben und dafür mehr spüren, weil man dann sehr viel besser auf Nichts warten kann. Und davor vielleicht nicht zu viel Kuchen essen, damit Chandra nicht das Licht löscht.
Marion Völger