Das unendliche Netz funkelnder Diamanten

Yoga kann auf der körperlichen Ebene eine recht verbissene und manchmal auch etwas freudlose Angelegenheit sein. Das ist eine ganz persönliche Erfahrung, die nicht wertend zu verstehen ist. Was mich immer ein wenig skeptisch gemacht hat, ist die Sache mit der Askese, die sich aus unzähligen Regeln der Hatha Yoga-Welt speist.

Regeln hatte ich schon, ich habe 30 Jahre lang als Juristin gearbeitet, das hat mich jeglichen Regelwerken gegenüber misstrauisch werden lassen. Ich habe deshalb in den yogischen Schriften immer nach Auslegungsmöglichkeiten gesucht, wenn sich mir die Logik einer Regel nicht erschloss oder ich spürte, dass mir etwas einfach nicht guttat.

In diesem Suchprozess war die Entdeckung der tantrischen Philosophie eine Offenbarung für mich. Mir gefällt allein der Ansatz, dass alles, was existiert, allein deshalb schon gut ist (Shri). Regeln gibt es nicht. Alles im Leben kann uns dienen, das Bewusstsein zu erweitern. Das ist doch mal ein Wort, Rotwein, Schokolade und - jetzt wird es ganz verwegen - auch spanischer Schinken? Schnelle Autos (nicht mein Schwerpunkt, aber ich kenne da jemanden…), schöne Schuhe? Alles darf Platz haben im Leben. Also auch alles was Spaß macht. Großartig.

Interessant ist, dass man nicht zwangsläufig zur hedonistischen Partylöwin wird, wenn man alles in sein Leben lässt. Etwas ganz anderes geschieht. Man wird durchlässiger, spürt sich wieder, und stellt fest, dass das Glas Rotwein gar nicht gut tut, sondern eher an eine Gewohnheit oder an eine angelernte Vorstellung von Gemütlichkeit gekoppelt ist. Es stört den Schlaf, macht schlechte Laune (je nach Lebensphase und Hormonstatus) oder verhindert, dass man sich an seine Träume erinnert, die für spirituelles Wachstum äußerst aufschlussreich sein können. Die dunkle Schokolade verträgt sich zudem schlecht mit dem Vata-Dosha und auf Fleisch hat man auf wundersame Weise einfach keine Lust mehr.

Also stimmt es doch, dass Yoga einem alles versaut, was Spaß macht? Ich vermute mal, die Wahrheit ist eine andere. Das, was früher mal Spaß machte, hat wohl eher den täglichen Lebenskampf in einem milderen Licht erscheinen lassen. Oder ganz einfach betäubt. Was aber ist auf dem Weg zu dieser neuen Durchlässigkeit geschehen?

Ich erkläre mir das so: Unsere fünf Sinne sind eine feine Sache, sie lassen uns die Welt riechen, sehen, schmecken, sehen, spüren und hören. Sie führen auch dazu, dass wir uns als Individuum wahrnehmen. Um uns in der Welt zu „behaupten“, ist das ein wichtiger Schritt, nur führt er leider auch dazu, dass wir uns irgendwann getrennt fühlen von allem anderen. Kennst Du das, wenn Du nach einer sehr arbeitsreichen Zeit mit vielen langen Tagen im Büro einen Spaziergang machst und erstaunt bist, wie sich Sonne und Wind auf Deiner Haut anfühlen? Und allzu oft entfremden wir uns nicht nur von der Natur, sondern auch von unserem eigenen Körper.

In unseren Yogaklassen werden wir viele Menschen antreffen, die diese Entfremdung nur allzu gut kennen, sei es bewusst oder unbewusst. Regeln, wie Yoginis und Yogis zu leben, zu denken und zu essen haben, dürften hier so wenig zielführend sein wie die einzig wahre Positionierung einer Asana. Und jetzt kommt der Diamant.

In seiner ursprünglichen Bedeutung heißt Tantra „Webstuhl“. Ein schönes Sinnbild, da in der tantrischen Philosophie alle Fäden des Lebens zusammengenommen werden, als Gewebe des Lebens sozusagen. Man kann sich auch das Netz vorstellen, das von der vedischen Gottheit Indra geknüpft wurde. In diesem Netz ist jeder Knoten ein in viele Facetten geschliffener Diamant. Wenn in einem Diamanten eine Bewegung stattfindet, spiegeln alle anderen Diamanten diese Bewegung wider, werden von der Bewegung, die sie aufgenommen haben verändert und ihr verändertes Sein wird wiederum in allen anderen Diamanten gespiegelt. Jeder Mensch, jedes Tier und jede Pflanze ist ein solcher Diamant.

Wenn also in einem Lebewesen eine Bewegung stattfindet, wird sie von den Lebewesen in seiner Umgebung aufgefangen und weitergespiegelt. Daraus ergibt sich eine Verbundenheit in alle Richtungen bis in die Unendlichkeit. Und in all diesen unendlich vielen Diamanten bricht sich das EINE Licht oder mit tantrischen Worten: das EINE Absolute Bewusstsein. Wir alle sind Diamanten im funkelnden Netz, die alles andere, genauer, das Licht des Bewusstseins, spiegeln.

Das ist nun der Moment indem wir verstehen dürfen, dass wir die Illusion, nicht wichtig zu sein, aufgeben sollten. Kommt Dir das auch bekannt vor? „Ich bin nicht wichtig.“ Mein wohl hartnäckigster Glaubenssatz. Und genau hier hat mich die tantrische Philosophie vor einigen Jahren auch abgeholt.

Der Gedanke an den funkelnden Diamanten im unendlichen Netz hilft mir, diesen Glaubenssatz immer wieder aufzulösen, wenn auch nicht dauerhaft. Besser klappt es manchmal, wenn ich mir die Wellen im Meer vorstelle. Jede Welle ist einzigartig, bleibt jedoch stets Teil des unendlichen Meeres. Ich bin also gewissermaßen eine einzigartige Welle, deshalb komme ich aus dieser Nummer ohnehin nicht raus, auch wenn ich mich gerade mal wieder nicht wichtig finde und mich in einem Mangelgejammer suhle.

Wir alle sind Teil des EINEN Absoluten Bewusstseins, das zwei Aspekte hat: Shiva und Shakti. Shiva ist formloses, reines Bewusstsein (männliches Prinzip), Shakti das pulsierende Bewusstsein, das sich zu Form und Gestalt verdichtet (weibliches Prinzip). Shakti ist alles, was wir im Inneren und Äußeren wahrnehmen, also Energie. Als Teile des EINEN Absoluten Bewusstseins sind wir pulsierende Energiefelder, wir schwingen im Rhythmus von Werden und Vergehen, von Kontraktion und Expansion, von Spanda, dem schöpferischen Puls, der die Welt im Innersten zusammenhält.

Was bedeutet dies nun alles für unsere Yogapraxis? Ich bin ja immer für die kleinen Schritte und Du kannst damit ganz einfach beginnen, indem Du Dich in deine Umgebung hineinentspannst und so die Ausrichtungsprinzipien aus dem Anusara Yoga ganz sachte mit der tantrischen Philosophie verbindest. Stell Dir das mal im herabschauenden Hund vor (oder mach es gleich selbst):

Schließe die Augen und nimm die Basis wahr und den inneren Körper, wie er sich langsam mit dem Einatmen aus dem Inneren heraus mit Licht füllt. Mit dem Ausatmen lässt Du Dich etwas tiefer in diese weichere Verbindung mit dem Boden sinken (Open to Grace). Mit der Einatmung ziehst Du die Kraft aus dem Boden über die Schultern und die Beine hoch ins Becken. Das nennt sich Kontraktion und Du verdichtest hinein in die Form, oder eben in die individuelle Welle (muskuläre Energie). Mit der Ausatmung schiebst Du die Energie wieder zurück vom Becken in den Boden. Das nennt sich Expansion und Du kommst aus der Begrenzung der Form wieder zurück in die Einheit und in die Fülle oder in das unendliche Meer (organische Energie).

Auf diese Weise bewegen wir uns mit der Schwerkraft anstatt gegen sie, wir pulsieren, fließen und verschmelzen mit dem Raum. Durch das Loslassen der Anspannung entsteht ein Gefühl der innerer Weite, auch bekannt als Verbundenheit.

Das geht übrigens auch außerhalb der Matte, zum Beispiel an einer mühsamen Arbeitssitzung, an einem anstrengenden Familienfest oder beim Warten auf die Bahn. Ausprobieren. Tief atmen und hineinentspannen, in das Meer oder in das unendliche Netz funkelnder Diamanten.

Marion Völger

www.silentmoves.blog

Zurück
Zurück

Nicht Fasten ist auch keine Lösung

Weiter
Weiter

Mit dem Wind der Veränderung durch den Herbst