Mit der Kobra Dankbarkeit praktizieren

Es gibt zwei Ansagen, die mich in einer Yogastunde immer ein wenig nervös machen. Die erste ist „loslassen“. Ich fühle mich dabei irgendwie unter Druck gesetzt. Lass los!

Was genau soll ich eigentlich loslassen und wohin? Geht es nicht eher ums „Zulassen“, ums „Sein lassen“ oder noch besser, ums „Fließen lassen“? Das hört sich für mich nach Entspannung an. Und dort will ich ja eigentlich hin.

Eine ganz ähnliche Reaktion ruft bei mir die Ansage „Herz öffnen“ bei Rückbeugen aller Art hervor. Wobei ich vorausschicken muss, dass Rückbeugen meinen tiefsitzenden Bewegungsmustern nicht unbedingt entgegenkommen. Ich bin eher der Vorbeugen-Typ.

Je nach Tagesform ist bei mir schon Bhujangasana (Kobra) jenseits der Komfortzone. Anatomisch lässt sich das Ganze problemlos erklären und eine, wenn auch weit zurückliegende Bandscheibenoperation mit dem entsprechenden Bewegungstrauma ist sicher nicht die ideale Ausgangslage für fluffige Rückbeugen. Aber das ist nicht der Punkt, sondern eine Ausrede. Bhujangasana stärkt ja bekanntlich den Rücken.

Wenn ich in Bhujangasana die Energien fließen lassen will, dann brauche ich so einiges an Vorbereitung: Ein richtig gutes Sequencing mit vielen Schulterloops, die meinen Brustraum weiten und tiefes Atmen möglich machen. Vor allem brauche ich aber eine weitgehend ungestörte Beziehung zu Anahata, dem Herzchakra. Ein ausgeglichenes Herzchakra gibt uns Raum, das Positive genauso annehmen zu können wie das Negative. Können wir uns der Freude, Liebe und Erfüllung genauso öffnen wie der Sorge und der Trauer, dann können wir eine intensive Tiefe im Leben und auch in einer Rückbeuge erfahren.

Anahata öffnet den Zugang zu unserer Seele. Wie wir Anahata erfahren, hängt aber von unserem Bewusstseinszustand ab. Und hier kommt Bhujangasana ins Spiel. In Indien gilt die Schlange als eine Vermittlerin der verschiedenen Sphären des Lebens und des Bewusstseins. Sie lebt gleichzeitig im Unbewussten (im Wasser und in Erdhöhlen), im Bereich des Alltagsbewusstseins (auf der Erde) und im Bereich des transformierten Bewusstseins (hoch auf Bäumen). Die Schlange steht damit symbolisch für die Wandlung vom Unbewussten zum Bewussten.

Im Anusara Yoga kennen wir das transformierte Bewusstsein hoch auf den Bäumen als Grace. Das erste Prinzip des Anusara Yoga, Open to Grace, bedeutet, sich für die Gnade zu öffnen und damit offen zu sein für das volle Spektrum, das uns das Leben zu bieten hat.

Die Schlange steht für eine weitere wichtige Wandlung: Das Sich Häuten. Immer dann, wenn wir spüren, dass uns im Leben etwas zu eng wird, seien es eigene Denkmuster, der Beruf oder die Beziehung, ist das ein Zeichen für inneres Wachstum, das sich anbahnt. Entschließen wir uns, aus dieser Enge herauszutreten und uns zu häuten, ist dies oft mehr als unangenehm. Vielleicht müssen wir auch nochmals einen Schritt zurückgehen und an einigen Stellen im Leben (wie auch im Körper) weicher werden.

Vielleicht liegt auch genau hier mein Problem mit dem „Herzöffner“. An dieser Stelle spüre ich, dass ich mit dem Kopf und mit meinem Alltagsbewusstsein nicht weiterkomme. Wenn ich hoch auf den Baum und aus dem Denkbewusstsein raus will, muss ich mich mit meinem Herzen verbinden. Hört sich schön und freudig an, ist es im ersten Schritt aber nicht unbedingt. „Sich mit dem Herzen verbinden“ bedeutet nämlich, dass ich nicht darum herumkomme, meinem Schatten zu begegnen.

Beispielsweise muss ich mir darüber klar werden, ob und womit ich mich gerade selbst in die Enge geführt habe, weshalb sich in Bhujanghasana kaum das Kinn vom Boden hebt. Diese Klärung führt oft nicht an den eigenen Ängsten und Dämonen vorbei. Habe ich vielleicht grad mal wieder meine eigene Überforderung als Sprungbrett genutzt, jemand anderem dafür die Schuld zu geben, oder meine eigene Verantwortung jemand anderem in die Schuhe geschoben?

Manchmal werden wir in einer Rückbeuge auch mit schmerzhaften Kindheitserinnerungen konfrontiert. Da kann es manchmal schon ein großer Schritt sein, sich diesen Verletzungen überhaupt bewusst zu werden.

Auch hier kann uns die Schlange helfen, sie ist ausgesprochen vielseitig. Sie ist ein mächtiges Symbol für unsere Fähigkeit, Ängste zu überwinden. Man wird Ängste ja bekanntlich nicht los, indem man sich vor ihnen versteckt oder vor ihnen davonrennt, wie man es intuitiv vor einer Kobra tun würde. Man muss sich ihnen nähern und sie aus verschiedenen Perspektiven betrachten.

Wir können unsere Ängste überwinden, wenn wir sie aus einer ruhigen, gelassenen Perspektive betrachten. Dann verliert selbst der Tod seinen Schrecken, der ja für viele Menschen die größte Angst darstellt. Meditation kann uns diese Gelassenheit geben. Und Bhujangasana stärkt unseren Rücken, so dass wir in der Meditation ungestört stillsitzen können.

 

Dazu gibt es eine schöne Geschichte von Buddha. Als er einmal unter dem Bodhi-Baum meditierte, versammelten sich zahlreiche Kobras in seiner Nähe. Buddha spürte ihre Gegenwart, hatte aber keine Angst. Seine Furchtlosigkeit gab den Schlangen die Gewissheit, dass er ihnen nichts tun werde und sie blieben, um ihn zu beschützen. Als es heftig zu regnen begann, sorgten sich die Menschen, die die Situation aus sicherer Distanz beobachteten, um Buddha, doch keiner wagte es, sich ihm zu nähern. Der König der Kobras schlängelte sich von hinten an Buddha heran, richtete sich auf, spreizte seinen Hals und wurde so zu Buddhas Regenschirm. Von tiefer Ehrfurcht ergriffen beobachteten die Menschen die Großzügigkeit der Kobra und die Standhaftigkeit des meditierenden Buddha.

 

Yoga ist immer auch eine Auseinandersetzung mit dem Leben. Eine Praxis mit vielen Rückbeugen zeigt mir das immer wieder deutlich. Rückbeugen, sind sozusagen meine Schattenasanas. Schon C.G. Jung lehrte uns, dass man Erleuchtung nicht dadurch erlangt, indem man sich Lichtgestalten vorstellt, sondern, indem man sich der Dunkelheit bewusst wird. Erleuchtung suche ich ehrlich gesagt nicht, wenn ich aber ein zufriedenes Leben mit verbundenem Herzen führen will, komme ich um die Sache mit der Dunkelheit irgendwie nicht herum.

 

Das große Geschenk, das die Verbindung mit dem Herzen für uns bereithält ist Selbstliebe, Selbstfürsorge und ein tiefes Gefühl von Dankbarkeit. Wenn Du magst, mach mal eine kleine Übung dazu und schreibe eine Liste von mindestens zehn Dingen, die Du an Dir selbst liebst, innen wie außen. Und nicht vergessen: Nicht perfekt sein zu wollen ist die Grundvoraussetzung für Freiheit.

Ich stelle immer wieder fest, dass beim Thema Selbstliebe und Selbstfürsorge ein großes Missverständnis besteht. Wie oft habe ich schon gehört, es sei egoistisch, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Und wie oft versuchte ich schon zu erklären, dass Selbstliebe und Selbstfürsorge die Voraussetzung für einen menschlichen Umgang mit der Welt sind. Aber auch das sind Konzepte, die man selbst erfahren muss, man kann sie nicht durch das Denkbewusstsein erschließen.

 

Deshalb ist es ganz hilfreich, wenn wir ab und zu in ein Fahrwasser gelangen, in dem wir uns selber betäuben und unseren Unmut an anderen auslassen. Sofern und das auch b e w u s s t wird. Mein persönlicher Alltagsklassiker: ich esse zuviel und kritisiere dann aus irgendeiner Nichtigkeit an meinem Mann herum. Mittlerweile glaube ich, dass wir einfach mindestens so gut für uns selber sorgen müssen, dass wir von anderen nicht erwarten, anders zu sein als sie sind.

 

Einen ganz besonderen Moment der Dankbarkeit durfte ich vor Kurzem erleben. Meine Mutter lebt seit einem Jahr in einem Pflegeheim und die Eingewöhnungszeit war lang und alles andere als einfach. Ich habe sie auf diesem Weg begleitet und irgendwann aufgehört, die Kobras zu zählen, denen ich in dieser Zeit begegnet bin. Was mit einem Menschen geschieht, der sich und die Welt allmählich vergisst, kann ich nur ahnen. Zuschauen zu müssen ist wahnsinnig traurig, aber wo Schatten ist, ist ja eben immer auch Licht.

 

Das Licht meiner Mutter ist die Gegenwart. Sie spürt, dass es das Einzige ist, was sie hat. Bei meinem letzten Besuch saßen wir zusammen beim Kaffee und während sie fast jede einzelne Pflanze im Garten kommentierte, fütterten wir uns gegenseitig mit Browniestückchen. Nach jedem Bissen strahlte sie über das ganze Gesicht und irgendwie hatte ich das Gefühl unter einem großen Regenschirm zu sitzen. So langsam beginne ich körperlich zu verstehen, was geschieht, wenn man sich mit dem Herzen verbindet und welche Dimensionen Grace haben kann.

 

Sich seinen Ängsten zu stellen, zu wachsen und sich dadurch zu erneuern ist ein Vorgang, der sich zyklisch im Leben wiederholt. Dies symbolisiert auch die Schlange, die sich immer wieder häutet. Das Schöne daran: Mit jeder Wiederholung gewinnt unser Leben an Lebendigkeit und Tiefe wodurch wir immer mehr Dankbarkeit erfahren.

 

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Mit dem Wind der Veränderung durch den Herbst

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Schildkrötensommer oder der Weg in die Verbundenheit