Schildkrötensommer oder der Weg in die Verbundenheit

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Seit Monaten beschäftigen mich irgendwelche Verletzungen. Meistens das Knie und das Schienbein. Sie erinnern mich immer wieder daran, dass ein angepasstes Training (an das Alter, an zurückliegende Operationen, an den aktuellen Stresslevel etc.) auch eine Möglichkeit gewesen wäre. Sobald sich die eine Baustelle stabilisiert, meldet sich die Schulter, deren Verletzung bekanntlich ein Entwicklungsfeld für die eigene Geduld und eine eigene Weiterbildung in Sachen Spiraldynamik ist.

Dieser Zustand nervt mich umso mehr, als sich mein Logbuch zum Abschluss der 300 Stunden-ATT-Ausbildung so nicht wirklich füllt. Stehhaltungen klappen an schlechten Knie- und Schienbeintagen gar nicht und an nervigen Schultertagen geht nicht mal ein herabschauender Hund.

Die Yogawelt bietet glücklicherweise alternative Praxismöglichkeiten, aber irgendwann wäre neben Blackroll-, Meditations- und anderen körperschonenden Einheiten auch mal wieder ein Ganzkörper-Flow nett.

Nachdem ich mich so richtig schön in meinem „Ich-kann-nicht-auf-der-Matte-praktizieren“-Gejammer eingerichtet hatte, das sich mit einer „Ich-kriege-mein-Ausbildungs-Logbuch-nicht-voll“-Panik abwechselte, legte sich eine sanfte Glocke der Trägheit über das Land. Es ist richtig heiss geworden und das ganze Leben verlangsamt sich. Bewegungen, Gedanken, alles erscheint plötzlich wie mit einem Weichzeichner gemalt.

Während jeglicher Tatendrang, der über das unbedingt zu Erledigende hinaus geht, unter der Wärmeglocke verdampft, fühlt sich das Leben an, als wäre die Zeit unendlich. So wie bei einer Schildkröte, die sehr lange lebt. Vermutlich spüren die Schildkröten das. Zumindest verhalten sie sich so, als hätten sie ein ganz andere Zeitempfinden als wir.

Ich war schon immer überzeugt, dass Schildkröten einen guten Einfluss auf uns Menschen haben; sie strahlen Ruhe und Zufriedenheit aus. Schildkröten wirken auf mich, als ob sie mit einer gesunden Distanz zu sich und der Welt geboren wurden. Beneidenswert.

In meiner Kindheit gab es zwei Schildkröten, die in unserem Garten wohnten. Anton und Ludmilla. Anton entdeckte ich mitten auf einer Straßenkreuzung. Bewegungslos sass er dort und war in aller Ruhe nervös. Ich rettete ihn und beobachtete ihn fortan. Weil er so allein war, kam irgendwann Ludmilla dazu.

Woher sie kam, weiß ich nicht mehr, aber für Anton wäre das Singledasein wohl besser gewesen. Ludmilla biss ihn ständig ins Hinterbein, bis ihm die Flucht gelang. Ich sah ihn nie wieder. Seine magische Beruhigungskraft, die ihn umgab, wenn er nicht gerade vor Ludmilla davonrannte, habe ich nie vergessen.

In der Yogapraxis kennen wir Kurmasana, die Vorbeuge aus dem Sitz auf dem Boden. Die Asana sieht ein bisschen aus wie eine Schildkröte, die ihre Gliedmaßen und ihren Kopf eingezogen hat.

Kurmasana steht in der indischen Mythologie für die zweite Inkarnation des Gottes Vishnu und das ging so: Die Götter und Dämonen bekämpften sich mal wieder und damit sie dabei nicht alle sterben mussten, schlug Vishnu vor, dass einige von ihnen gemeinsam im Ozean einen Unsterblichkeitstrank brauen sollten. Dabei versenkten sie aus Versehen den Berg Meru, den sie als Quirl benutzten.

Vishnu verwandelte sich in eine Schildkröte, tauchte ab in den Ozean, schlüpfte unter den Berg und hob ihn auf seinem Rücken wieder nach oben. Es ist eine lange Geschichte an deren Ende tatsächlich der Unsterblichkeitstrank aus dem Ozean auftaucht. Deshalb gibt es noch ganz viele so schöne Geschichten der indischen Götter. Und irgendwie fühle ich mich durch diese Geschichte auch in meiner Vermutung bestätigt, dass Schildkröten ganz viel Zeit haben.

Die zweite Bedeutung von Kurmasana ist für uns etwas naheliegender: Die Schildkröte steht auch für den Rückzug der Sinne. Die Fähigkeit, unsere Sinne bewusst und aktiv nach innen zu ziehen (Pratyahara), üben wir im Yoga auf ganz verschiedene Art und Weise, und das hat seinen guten Grund.

Solange wir den Lärm der Außenwelt auf uns einwirken lassen, ist unser Geist unruhig und zerstreut. Er nimmt unendlich viele Sinneseindrücke wahr, verarbeitet sie und versucht, sich dem Tempo anzupassen, was sich irgendwann so anfühlt wie aufgewirbelter Schlamm der sich nicht mehr setzt. Wir können nicht mehr zu uns kommen und haben Mühe, uns zu konzentrieren.

Die Erkenntnis, dass dies nicht unbedingt eine gute Sache ist, scheint sich so langsam durchzusetzen. Aktuell erfreut sich ja beispielsweise „Dopamin-Detox“ großer Beliebtheit. Ich staune immer wieder, wie man viel Geld damit verdienen könnte, einfach mal ein paar Dinge nicht zu tun, aber das ist ein anderes Thema.

Pratyahara, das Zurückziehen der Sinne, entspricht der fünften Stufe von Patanjali’s achtgliedrigem Yoga-Pfad. Bei den ersten drei Stufen (Yama, Niyama und Asana), geht es um den Umgang mit der äußeren Welt. Bei der vierten und fünften Stufe, also Pranayama und Pratyahara, geht es um die Einkehr nach innen. Erst, wenn wir unsere Sinne zurückziehen können, sind wir wahrer Konzentration (Stufe 6, Dharana) fähig und können anschließend mit Hilfe von Stufe 7, Meditation (Dhyana), zu Stufe 8, der Erleuchtung (Samadhi), gelangen.

Pratyahara ist also die Voraussetzung für jede Form von Achtsamkeits- und Meditationspraxis und damit der wesentliche Schritt von außen nach innen. Dieser innere Schildkrötenweg führt uns in die Konzentration, in die Meditation und in die Verbundenheit.

Was geschieht nun, wenn wir Kurmasana praktizieren? Verweilen wir in der Schildkrötenhaltung, verlängert sich automatisch die Ausatmung und der Geist beruhigt sich. In Kurmasana können wir fast ausschließlich in den Bauch- und Beckenraum atmen. Durch die tiefe und ruhige Bauchatmung wird der Vagusnerv aktiviert.

Die vorbeugende Haltung in Kurmasana bewirkt zudem, dass es äußere Reize schwer haben, uns abzulenken. Deshalb können wir sehr rasch in unser Inneres vordringen. Kurmasana ist in gewisser Weise auch eine Meditation für Ungeduldige. Nach innen gewandt kann sich der zappelige Geist wieder beruhigen. Der aufgewirbelte Schlamm legt sich. Plötzlich erkennen wir wieder den Sinn für das Wesentliche.

Die Wirkungen von Kurmasana können sich übrigens auch über den Rückzug der Sinne hinaus sehen lassen. Die Asana verbessert die Flexibilität der Hüftgelenke, dient zur Vorbereitung von Padmasana, dem Lotossitz (vielleicht im nächsten Leben), entspannt die Nacken- und Rückenmuskulatur und lehrt uns beim Einüben Geduld (hoffentlich noch in diesem Leben).

Kurmasana ist so etwas wie eine Übergangsjacke. Sie ist eine typische Asana für den Herbst, wenn sich die Natur und auch unsere Sinne allmählich auf dem Rückzug befinden. Man kann sich darauf aber auch schon im Hochsommer vorbereiten, zumal sich der Herbst in der zweiten Augusthälfte gerade am frühen Morgen durch diese wohltuende sanfte Klarheit bereits ankündigt. Und Ruhe ist immer eine feine Sache, gerade wenn es heiß ist.

Großartig finde ich auch, dass mich weder mein Knie, mein Schienbein und nicht mal meine Schulter daran hindern, Kurmasana zu praktizieren. Zumindest nicht bei der einfachen Variante, man muss ja nicht immer gleich einen Berg anheben. Ich vermerke das mal so in meinem Ausbildungs-Logbuch.

Marion Völger

www.silentmoves.blog

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