Stille beginnt, wo das Suchen aufhört

Einen Teil der Wintermonate verbringe ich in meinem spanischen Zuhause. Der November ist meistens alles andere als kalt und grau, sondern ausgesprochen sonnig und hell. Und dennoch ist das bekannte Bedürfnis dieser Jahreszeit nach Rückzug und Ruhe hier nicht weniger präsent, als im deutlich kühleren Norden.

Im November erinnert uns die Natur daran, uns zurückzuziehen. Nur wird das Leben oft gerade dann durch die zahlreichen Verpflichtungen und Anlässe der Vorweihnachtszeit hektisch. Können wir dennoch in die Stille finden?

Mein Yogaweg hat mich in ein Leben geführt, indem ich der Natur sehr nahe sein kann. Und was ich hier in der Natur beobachte und spüren kann, ist subtiler als in meinem deutschen Zuhause. So stellen zum Beispiel trotz des schönen und warmen Wetters die Pflanzen irgendwann fast unbemerkt ihr Wachstum ein, fast ohne Entblätterung und dramatische Farbwechsel. Die Fliegen werden immer kleiner und die Moskitos immer dünner. Letztere segeln gerade ohne äußeren Anlass zu Boden und hören einfach auf, zu sein.

Diese leisen Momente, in denen sich die Natur zurückzieht und der Kreislauf des Lebens scheinbar endet, wirken im ersten Moment ein wenig hoffnungslos. So ähnlich, wie wenn gerade ein Gewitter der Nachrichten über einen hinweg zieht.

Schaue ich genauer hin, erinnert mich dieses Gefühl der Hoffnungslosigkeit an die tantrische Weisheitsgöttin Dhumavati. Dhumavati wird die „düstere Witwe“ genannt. Alles hat sie verloren: Jugend, Schönheit, Besitz und ihren sozialen Status. Sie wirkt verwahrlost, ausgemergelt und vom Schicksal gezeichnet. An Dhumavati ist nichts strahlend und anmutig, sondern verwittert und – eben hoffnungslos.

Dhumavatis Botschaft an uns ist, sich all dem zu stellen und radikal alle Lebensaspekte zu integrieren, nicht nur unsere Sonnenseiten. Sie ruft uns zur Schattenarbeit im psychologischen Sinne auf. Wir alle tragen sie in uns, die unterdrückten Gefühle von Schuld, Scham und Wut, Angst und Trauer, um nur einige davon zu nennen. Dhumavati erinnert uns auch daran, dass wir nichts mitnehmen können, wenn wir gehen und dass wir Besitz, Gesundheit und Glück niemals festhalten können.

Das hört sich nun alles wenig erbaulich an, fordert uns aber zum Kern der tantrischen Praxis auf: die Schönheit des Lebens ebenso zu umarmen wie seine Abgründe. Indem wir unsere inneren Dämonen ans Licht holen und lieben lernen verwandeln wir sie.

Allerdings ist die Versuchung groß, dieser inneren Dunkelheit zu entfliehen. Gerade in der Yogawelt hat mich diese Flucht schon wiederholt in eine „spirituelle Krise“ geführt. Wir kennen sie alle, die Meditationen über Licht, Glückseligkeit und Dankbarkeit. Und sie sind meistens schön. Die Frage ist nur, ob sie immer genau das sind, was wir im Moment brauchen und was uns auf Dauer trägt.

Diana Sans formuliert es in ihrem wunderbaren Buch über die tantrischen Weisheitsgöttinnen so: „Dhumavati macht kurzen Prozess mit allen, die glauben, ihre spirituelle Praxis nutzen zu können, um elegant die finsteren Klippen des Lebens zu umschiffen. Sie fordert von uns radikale Akzeptanz und eine innere Haltung des Zulassens.“

Dhumavati verkörpert damit die Weisheit der Hoffnungslosigkeit und genau dieser Punkt scheint mir in unserer stürmischen Zeit ungemein hilfreich. Gerade wenn wir uns niedergeschlagen fühlen vom bereits genannten Gewitter der Nachrichten, klammern wir uns gerne an die Hoffnung. Das ist menschlich und tröstend. Fragt sich nur, ob es immer so hilfreich ist.

Hoffnung hat viele Facetten. Sie ist für mich beispielsweise ein zentrales Merkmal der Demokratie, denn Vorstellungen von der Zukunft nähren unsere Bereitschaft, uns zu engagieren, einfach weil es Sinn macht.

In der Regel verbinden wir mit der Hoffnung aber eine „bessere Zukunft“. Diese Haltung führt nicht selten zu einer Ent-Täuschung (die Schreibweise ist bewusst gewählt), denn sie trennt uns von der Gegenwart, weil wir sie ablehnen.

Widerstand führt bekanntlich nie in die Freiheit. Hören wir aber auf, gegen den Fluss des Lebens anzukämpfen, öffnet sich der Raum der Gelassenheit. Mit den Worten von Diana Sans: „In der vermeintlichen Passivität des Sich-Ergebens offenbart sich eine gelassene, entspannte Art, mit den Dingen zu sein.“

Kultivieren wir diese Haltung, könnte dies ein Schritt in die Stille sein, die wir oft so sehr suchen, wobei gerade Letzteres das Problem ist. Stille kann man nicht finden. Aber man kann aufhören, sie zu suchen.

Marion Völger

www.silentmoves.blog

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Der Sturm vor der Ruhe