Der Sturm vor der Ruhe

Ich liebe Herbstspaziergänge im Wald. Die Farbenpracht um mich herum und das Rascheln der Blätter zwischen meinen Füssen haben eine beruhigende Wirkung auf mich. Und sogar dem Wind, den ich an sich nicht so schätze, kann ich in dieser Jahreszeit etwas abgewinnen.

Herbstwind ist der Sturm vor der Ruhe und Letzteres löst bei mir immer gute Laune aus. Vielleicht faszinieren mich die Veränderungen der Natur im Herbst deshalb schon immer mehr als das Frühlingserwachen, das oft mit einem für mich unerklärlichen Tätigkeitsdrang einhergeht. Beides ist Veränderung.

Mit Veränderung geht ja gefühlt immer viel Bewegung einher. Im Moment scheint es, als hätte jemand aufs Gaspedal der Geschichte gedrückt. Mir sind im Moment ein wenig die Rezepte ausgegangen, wie man damit umgehen soll.

Aber es gibt auch noch die Veränderungen, die wir selbst anstossen. Da könnte man genauer hinschauen. Wie oft soll etwas besser, schneller, weiter oder höher werden und weiterentwickeln sollen wir uns ja auch noch. Immer weiter. Könnte man Veränderung aber nicht auch mal ganz anders denken? Denke ich mir so zwischen den bunten Blättern.

Veränderung ist in unserer westlichen Welt oft mit den Themen Unsicherheit und Angst besetzt. Im Hinduismus hingegen ist die Veränderung Teil des ewigen Kreislaufs von Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung und Wiedergeburt. Es geht also weniger um das »immer weiter« sondern eher um eine Kreisbewegung.

Da ich ohnehin der Überzeugung bin, dass uns ein lineares Weltbild nicht unbedingt glücklich macht, habe ich mich deshalb mal in der Welt der indischen Gottheiten umgeschaut.

Viele Gottheiten verkörpern Wandel, Transformation oder Übergänge. So stehen beispielsweise Shiva und Kali für eine radikale, zerstörerische Veränderung (manchmal geht es einfach nicht anders). Vishnu, Lakshmi und Saraswati hingegen stehen für weiche und evolutionäre Transformation.

Saraswati hat es mir besonders angetan. Sie ist eine der faszinierendsten und zugleich subtilsten Göttinnen. Sie steht nicht für körperliche oder materielle Veränderung, sondern für geistige und kreative Transformation.

Saraswati bedeutet »die Fließende« und verkörpert Weisheit, Kreativität, Sprache, Kunst und Erkenntnis. Laut den alten Veden kam dies so:

Am Anfang der Zeit war nur Stille. Kein Klang, kein Wort, kein Gedanke bewegte den unendlichen Ozean des Seins. In dieser Stille sass Brahma, der Schöpfer, und wollte die Welt erschaffen. Doch so sehr er sich bemühte, seine Gedanken blieben formlos und stumm.

Da erschien aus dem goldenen Licht seines Herzens eine leuchtende Gestalt: Eine Frau von unbeschreiblicher Anmut, ganz in Weiss gekleidet mit einer indischen Laute (Vina) in den Händen und einem Schwan zu ihren Füssen.

Brahma fragte ehrfürchtig, wer sie sei. Sie lächelte und sprach: »Ich bin Saraswati, die Stimme deiner Gedanken. Durch mich werden deine Ideen Gestalt annehmen.«

Saraswati strich über die Saiten ihrer Vina und die Schwingung ihres Klangs durchdrang das Universum. Aus dieser Schwingung entstanden die ersten Töne, aus den Tönen die Silben, aus den Silben die Worte und aus den Worten die Schöpfung selbst.

Flüsse begannen zu fließen, Sterne begannen zu singen und das Bewusstsein der Welt erwachte, denn Saraswati hatte den Klang der Wahrheit in Bewegung gesetzt. Ihr Klang fließt durch jeden Gedanken, jedes Lied, jedes Gedicht und in der Tiefe jeder Meditation; dort, wo Bewusstsein und Stille sich begegnen.

Diese Geschichte erinnert mich daran, dass Veränderung auch ganz leise geschehen kann. Bei einer Veränderung denken wir oft daran, dass etwas besser, schneller, höher oder weiter sein muss. Man kann das evolutionär begründen. Unser Gehirn ist schlicht nicht darauf ausgerichtet, dass es auch eine gute Idee sein könnte, etwas wegzulassen.

Unser Veränderungsstress, den wir uns manchmal selber produzieren (bald kommen die guten Neujahrsvorsätze!), kommt vermutlich daher, dass wir glauben, uns auf ein Ziel hin verändern oder irgendetwas erreichen zu müssen. In der Zukunft. Man könnte ja auch einfach mal das WIE und damit die Gegenwart verändern.

Vielleicht könnte man Veränderung mit Unterstützung von Saraswati neu denken? Weniger tun, mehr geschehen lassen. Sich von den Schwingungen durchdringen lassen und schauen, was geschieht. Sich einfach mal in den Stillstand begeben und Staunen.

Weiterentwicklung kann auch in einer Ent-Wicklung bestehen. Vielleicht passt das im Moment ja auch ganz gut, denke ich mir so, zwischen den raschelnden Blättern, im Sturm vor der Ruhe.

Marion Völger

www.silentmoves.blog

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Der Mangel in der Fülle