Der Mangel in der Fülle

Kürzlich musste ich mir einen neuen Mixer kaufen. Das alte Gerät hatte den Geist aufgegeben. Ich recherchierte im Internet nach den aktuellen Testsiegern, verglich Kundenmeinungen und nach 20 Minuten war ich von den Möglichkeiten des Mixer-Universums vollkommen erschöpft.

Ich suchte nach einem Mixer mit möglichst wenigen aber dafür sinnvollen Funktionen. Ich wollte weder eine App herunterladen noch ungefragte Menüvorschläge einer KI-Lisa erhalten. Das Gerät sollte mir auch nicht mitteilen, ob in meinem Wohnort aktuell Stromausfälle zu erwarten seien. Ich wollte einfach einen Mixer und keine zusätzliche Informationsquelle.

In meinen Bemühungen, ein einfaches Leben zu führen, fühle ich mich von der Welt nicht sehr ernst genommen. Ich suche ein Buch zu einem Thema oder eine Weiterbildung und schon versinke ich im Ozean der Möglichkeiten und Vorschläge. Die Auswahl ist unendlich und mein freier Wille, an dem ich ohnehin zweifle, ist längst ins Koma gefallen. Man könnte auch sagen, ich leide an einem Mangel in der Fülle.

In Situationen, in denen mir die Orientierung kurzfristig abhandenkommt, ist die Matte oft mein rettender Anker. Verletzungsbedingt ist meine Asana-Praxis in den letzten Monaten aber in den Hintergrund gerückt. Das ist nicht schön, bietet aber Raum für andere Vertiefungen und so habe ich mich entschieden, mit den tantrischen Weisheitsgöttinnen auf eine Reise zu gehen.

In der tantrischen Philosophie wird Shakti als Mahadevi (die große Göttin), oft mit einem Fluss verglichen, in dem wir baden. Da wir nicht gleichzeitig im ganzen Fluss baden können, tun wir das jeweils an einer Stelle. So können wir mit der Zeit den ganzen Strom des Lebens verstehen.

Für die Praxis mit den Göttinnen bedeutet dies, dass wir die Göttin in unterschiedlichen Formen (und an unterschiedlichen Stellen im Fluss) erfahren, in Form der Mahavidyas.

Genannt seien hier nur einige von ihnen: Kali – die dunkle Mutter, mit der alles beginnt; Tara – die Urmutter der Kreativität, Lalita Tripura Sundari – die feminine Herrscherin; Bhuwaneshwari – die uns lehrt, in die Ungewissheit hinein zu entspannen oder Kamala – die Göttin der Freude und Fülle.

Die Mahavidyas können uns viel über uns selbst und über das Leben lehren.

Maha bedeutet auf Sanskrit »gross« und vidya »Weisheit« oder »Wissen«. Jede der tantrischen Weisheitsgöttinnen ist eine universelle Form von Shakti, dem heiligen weiblichen Prinzip, hat aber ihr eigenes Schwingungsmuster. Man kann die Präsenz der Göttinnen im täglichen Leben wahrnehmen, und reflektieren, was eine wunderbare Praxis und Orientierungshilfe sein kann.

Auf der persönlichen Ebene kann man die Göttinnen auch als archetypischen Prozess verstehen und die Reise mit ihnen als eine Heldenreise. Jede Göttin ist damit sowohl eine übergeordnete kosmische Kraft als auch ein Anteil von einem selbst.

Die Mahavidyas unterscheiden sich vom patriarchalischen System des klassischen Hinduismus. Sie sind nicht als Götterpaar anzutreffen (wie Brahma und Sarasvati, Vishnu und Lakshmi oder Shiva und Parvati) und bedienen auch nicht allein die klassischen weiblichen Stereotype. Sie sind vor allem herausfordernd und unangepasst und scheinen mir damit die idealen Reisegefährtinnen zu sein.

Beginnt man mit der Praxis, so startet man am besten mit einer Göttin, mit deren Energie man gerade in Resonanz gehen kann. Beim Thema Mangel in der Fülle, das mich momentan zu begleiten scheint, spüre ich diese Resonanz am stärksten mit Kamala, der Lotos-Göttin. Sie steht für das blühende Leben, Ernte und Freude. Sie muss wissen, wie das geht mit der inneren und äußeren Fülle.

Kamala verkörpert die vier universellen Lebensziele (Purusharthas):

1. Dharma

Dharma lässt sich mit Lebenssinn, Bestimmung oder auch Erfüllung übersetzen. Sind wir nicht in unserem Dharma verankert, so bleibt jede Fülle in unserem Leben oberflächlich. Leben wir hingegen unser Dharma, finden wir Erfüllung in dem, was wir tun.

2. Artha

Artha bedeutet Fülle als innere Haltung. Wir können durchaus Freude am materiellen Besitz haben, sollten dabei aber frei von Gier und Anhaftung bleiben. Gelingt uns dies, können wir erkennen, wie reich wir beschenkt sind, und unser ängstliches Festhaltenwollen wird zu Dankbarkeit.

In Momenten der Dankbarkeit nehmen wir uns selber nicht mehr so wichtig. Dankbarkeitslisten zu schreiben kann deshalb sehr hilfreich sein, wenn wir der Sache (also der Freiheit) ein Stück näherkommen wollen.

3. Kama

Kama steht für Lebensfreude, Genuss und sinnliches Vergnügen. Tantra lädt uns ein, sinnlichen Genuss ohne Schuld, Scham und Reue auszukosten. Wichtig dabei ist, dass wir ganz bewusst genießen, ohne daran festhalten zu wollen.

Damit geht Tantra einen eigenen Weg und unterscheidet sich fundamental von anderen spirituellen Wegen. Der tantrische Weg traut uns zu, dass wir Sinnlichkeit bewusst ausleben können, ohne uns darin zu verstricken.

Die meisten von uns sind wohl nicht mit diesem Vertrauen aufgewachsen. Im Tantra bekommen wir ausdrücklich die Erlaubnis, es uns selber recht zu machen. Ich kann es manchmal gar nicht fassen, dass ich über 50 Jahre gebraucht habe, um dieses Tor zur Freiheit zu entdecken.

4. Moksha

Moksha ist die innere Freiheit und damit unsere Bereitschaft, mit offenem Herzen zu empfangen und wieder loszulassen. Es geht nicht darum, unserem Schmerz auszuweichen, sondern einfach darum, nicht mehr so an ihm zu leiden. Man kann dennoch glücklich sein.

Halten wir die vier Purusharathas in einer Balance, können wir einen tollen Job haben, ohne uns über ihn zu definieren, wir können etwas besitzen, ohne daran festzuhalten und wir können genießen, ohne süchtig danach zu werden. Ein schönes Leben.

Ganz ehrlich: Wer schafft das? Aber auch darum geht es nicht. Es geht vielmehr darum, dass wir jeden Tag ein wenig dieser Schönheit erkennen, auch und gerade an unerwarteten Orten.

Auf diesen letzten Punkt weist uns Vers 74 im Vijnana Bhairava Tantra* hin:

»Wo immer der Geist seine Erfüllung findet, ebendarauf soll man sich konzentrieren. Genau dort wird sich das Wesen der höchsten Seligkeit offenbaren.«

Ganz frei übersetzt bedeutet dies, dass man nicht die ganze Pralinenschachtel essen muss, sondern sich seine Pralinen (oder den Mixer, das Buch, die Weiterbildung) aussuchen darf, es dabei bleiben lässt und sie dann mit allen Sinnen genießt.

Diesen letzten Punkt darf man sich immer wieder in Erinnerung rufen, wenn man merkt, dass sich ein Mangel in der Fülle am Horizont abzeichnet. Ich versuche mir dann vorzustellen, wie Kamala genussvoll ihre Praline auf der Zunge zergehen lässt.

*Wer bisher keinen Zugang zu einer regelmäßigen Meditationspraxis gefunden hat, dem sei das Vijnana Bhairava Tantra sehr ans Herz gelegt. Hier geht es nicht darum, möglichst lange still zu sitzen und an nichts zu denken. Dieser einzigartige Text ist voller gelebter Meditationspraxis, die sich in jedem Alltag, auch in einem beschleunigten - entfalten kann. Die 112 Meditationstechniken sind so vielfältig, dass sie wohl jede Lebenssituation umfassen.

Wer nun auch mit den tantrischen Göttinnen auf Reisen gehen möchte, dem sei folgende Literatur empfohlen:

Diana Sans, mit dem Leben tanzen, die 10 Weisheitsgöttinnen des Tantra als Begleiterinnen durch Licht und Dunkelheit, O.W. Barth Verlag 2024.

Bettina Bäumer, Vijnana Bhairava, Das göttliche Bewusstsein, Verlag der Weltreligionen, 3. Auflage 2013

Marion Völger

www.silentmoves.blog

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