Das Geheimnis der Verbundenheit

Die herbstlichen Vorboten sind da. Das Licht wird sanfter und die Farben verändern sich. Auf den Wiesen kann man mancherorts schon vergorenes Obst riechen und bei den Früchten auf dem Markt weichen gelb und orange den Blautönen. Das Leben wird allmählich leiser, wenn auch noch ganz verhalten.

Vielleicht ist Letzteres auch nur Wunschdenken, aber ich spüre, wie mich allein schon dieser Gedanke entspannt. Im Sommer signalisiert mir die Sonne schon am frühen Morgen, dass es Zeit ist, draußen etwas zu unternehmen, gute Laune zu haben, Leute zu treffen und zu feiern. Auch wenn die Zeit vorbei ist, in der ich das Gefühl hatte, all dies ständig tun zu müssen, so macht mich der Sommer nach wie vor unruhig. Umso mehr freue ich mich nun über die ersten Trauben und Zwetschgen.

Dieser allmähliche Übergang vom lauten Sommer in den leisen Herbst ist ein wunderbares Sinnbild. Kaum ein anderer Jahreszeitenwechsel steht für mich so sehr für den Ausgleich, um den es immer wieder geht, wenn wir ein zufriedenes Leben führen wollen. Den Ausgleich zwischen Anspannung und Entspannung, hell und dunkel, heiß und kalt, laut und leise.

Manchmal denke ich, die Natur ist unsere größte Lehrerin. Man kann einfach beobachten, statt sich mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen. So kann zwischen uns und der Natur eine Verbindung entstehen. In solchen Momenten spüre ich wieder den Boden unter meinen Füssen und ich fühle mich zu Hause.

Im Alltag bin ich oft sehr ungeduldig. Ich frage mich rasch, ob etwas gut oder schlecht ist für mich oder was ich da eigentlich gerade produziere. Meine Aufmerksamkeit in unserer technologiebestimmten Welt ist meist oberflächlich. Zeit in der Natur erinnert mich daran, dass es eine andere Art der Beziehung und des Verstehens gibt, die tiefer und lohnender ist.

Man sagt, dass Yoga einem die Natur näherbringt. Ich finde, das gilt auch umgekehrt.

Üben wir zum Beispiel den Baum oder den Hund, können wir eine Beziehung zu den durch sie verkörperten Lebewesen schaffen. Im Baum kann ich das Verwurzeln spüren, im Hund kann ich mich recken und strecken, meinen Kopf loslassen und im besten Fall mein Ego zähmen. All dies geschieht, wenn wir es schaffen, zu beobachten, ohne zu bewerten und so eine Verbindung entstehen lassen.

Ein kleines Rätsel war mir in dieser Hinsicht immer der Fisch, den es ja in zwei Ausführungen gibt: Matsyasana und Matsyendrasana.

Ich räume ein, Matsyasana ist eine meiner Furcht-Asanas. Eine bewertungsfreie Beziehung aufzubauen, finde ich echt schwierig. Wie bei allen Rückbeugen stockt mir erst einmal der Atem und ich benötige viele Schulter-Loops, um mich an diese Haltung heranzutasten.

Bei Matsyasana liegen wir mit ausgestreckten Beinen auf dem Rücken, die Ellbogen befinden sich unter dem Körper. Beim Einatmen hebt sich die Brust, der Kopf fällt zurück und der Scheitel berührt den Boden. Geben wir so unsere Vorderseite mit Herz und Kehle preis, liegen wir offen und schutzlos da.

Matsyasana symbolisiert in dieser ganzen Offenheit unsere innere Einstellung von vertrauensvoller Hingabe. Die Sache mit der Hingabe scheint eine meiner Lebensaufgaben zu sein. Mit einem Block zwischen den Schultern und einer Decke zwischen Kopf und Boden kann ich mich aber immerhin dem Gefühl annähern.

Weit weniger Mühe bereitet mir die zweite Fisch-Haltung, Ardha Matsyendrasana, eine Sitzhaltung mit einer wohltuenden Wirbelsäulendrehung.

Die Haltung symbolisiert die beiden polaren Aspekte Matsyendras: Matsya (der Fisch) steht symbolisch für alles Weibliche: den Mond, das Wasser, das Kühle, das Empfangende und für die linke Körperseite. Indra (der vedische Götterkönig) steht für die Wirkkraft, die Energie der Sonne und die rechte Körperseite.

In Matsyendrasana werden diese beiden Pole zusammengefügt. Sie durchdringen und ergänzen sich. Matsyendrasana steht deshalb auch für das Annehmen und für die Geduld. Wir drehen uns zuerst nach links und dann nach rechts. Meistens fällt uns eine Seite leichter als die andere, je nachdem, ob man die stille, kühle, verinnerlichende Mondenergie oder die aktive, warme und nach außen strahlende Sonnenenergie bevorzugt. Üben wir Matsyendrasana, können wir beide Pole ausgleichen, ähnlich, wie bei Nadi Shodhana, der Wechselatmung.

Der Yogaweg hält viele Geschenke für uns bereit und eines davon ist, dass wir lernen können, wie wir immer wieder einen Ausgleich schaffen und so gelassener werden können. Für mich ist dieser Ausgleich die Essenz jeder Yogapraxis.

Dennoch tappe ich immer wieder in die Falle, indem ich in einem der beiden Pole zu lange verbleibe oder es einfach übertreibe. Plötzlich bin ich vom Alltagslärm und -tempo wieder so benommen, dass ich zu nichts und niemandem mehr eine Verbindung aufnehmen kann, schon gar nicht zu mir selbst.

Für einen Ausgleich muss ich erst wieder in den Vollbesitz meiner eigenen Sinne kommen. Als Sofortmaßnahme hilft mir da weniger die Yogamatte, sondern genau diejenigen Dinge, die ich aus dem Reflex heraus nicht tun würde: das Handy weglegen, keine Dinge essen und trinken, die mir nicht guttun: Zucker, Kaffee, Alkohol. Allein sein. Raum schaffen. Eine Kerze anzünden. Einfach das ganze Programm, das der Seele guttut. Auch das ist Yoga.

Und nun zum Fisch.

Gemäß der alten Schriften war es Shiva, der den Menschen diesen Yogaweg schenkte. Die Geschichte geht – je nach Erzähltradition – in etwa so: Auf einer Insel inmitten eines Flusses verkündete Shiva seiner Gattin Parvati, dass er während der Meditation (die zehntausend Jahre andauerte) etwas ganz Wunderbares entdeckt habe: Yoga, der Pfad zur ultimativen Vereinigung des individuellen Selbst mit der göttlichen Quelle. Es sei der Schlüssel zum Universum.

Er erzählte Parvati ausführlich von den Übungen, die man machen kann, vom Zustand der Meditation und wie jedes Individuum einen Teil der göttlichen Quelle enthält. Heute würde man diesen Vortrag von Shiva vermutlich Mansplaining nennen, denn Parvati praktizierte schon seit Urzeiten auf ihre eigene stille Art Yoga. Eigentlich hatte sie immer angenommen, dass auch Shiva längst mit dem Yogaweg vertraut sei, und sie war nun ziemlich überrascht, dass er erst jetzt diese »Entdeckung« gemacht hatte. Da sie die Freude des Augenblicks nicht trüben wollte, ließ sie sich aber geduldig die Welt erklären.

Währenddessen schwamm Matsya im Fluss vorbei und hörte dem Vortrag von Shiva über das Leben und die Natur des Universums aufmerksam zu. Es klang wichtig und interessant. Er verweilte völlig regungslos, um jedes Wort in sich aufzunehmen. Während Matsya lauschte, begann ein Zauber in ihm zu wirken. Er fühlte, wie all die Techniken und Theorien, über die Shiva sprach, von seinem Körper aufgenommen wurden und in ihm Wirkung entfalteten.

Shiva erkannte dies, verlieh dem Fisch eine menschliche Gestalt und machte ihn zum »Herrn der Fische« (Matsyendra). Er trug ihm auf, das geoffenbarte Wissen den Menschen zu bringen und sie die Methoden des Yoga zu lehren. Seitdem gilt Matsyendra als der mystische Begründer und erste Lehrer (Guru) des Hatha-Yoga.

Beim Zuhören ist es wie beim Beobachten. Tut man dies vorurteilsfrei, ohne zu bewerten und ohne sich zu überlegen, wie man auf das Gehörte reagieren soll, kann ein Zauber entstehen, wie bei Matsya. Mir scheint, dies ist das Geheimnis der Verbundenheit.

So habe ich nun meinen Zugang zum Fisch gefunden. Er ist nun nicht mehr meine Furcht-Asana, sondern mein Lehrer. Irgendwie hilft mir diese neue Beziehung, wenn ich mich mit der Hingabe schwertue. Aber es dauert ja bekanntlich ewig, seine eigenen Unzulänglichkeiten in den Griff zu bekommen. Man muss es einfach ständig aufs Neue versuchen.

Marion Völger

www.silentmoves.blog

Weiter
Weiter

Wenn die Zeit flexibel wird