Stille Vorsätze

Ich gestehe, ich bin ein analoges Fossil. Die Nachrichten lese ich in einer herkömmlichen Zeitung, und damit zu einem Zeitpunkt, in der sie meistens schon überholt sind. Mir gefällt dieser kleine Abstand zur Welt.

Manchmal beschleicht mich aber doch die unangenehme Frage, ob ich mit meiner Vorliebe für die greifbare Welt den Anschluss an ebendiese irgendwann verlieren werde. Ich neige dazu, diese Frage mit ja zu beantworten.

Noch ist es mir aber wichtig, zu beobachten, was ich denn eigentlich verpassen würde. Aus diesem Grunde habe ich auch noch einen Facebook-Account. Seit ich erfahren habe, dass sich auf dieser Plattform fast nur noch Menschen jenseits der Lebensmitte (wo auch immer diese sein mag) aufhalten, fühle ich mich allerdings wieder etwas aufgehobener und schaue mir die (KI-freien) Katzenvideos gleich viel gelassener an.

Ich poste kaum etwas und like auch selten. Auch habe ich mich nie mit den Algorithmen auseinandergesetzt, weil ich zur Sache mit der Sichtbarkeit ein vielschichtiges Verhältnis habe. Und ehrlich gesagt traue ich mich auch kaum, etwas über Social Media zu schreiben, weil ich den Verdacht habe, dass mir nicht einmal das dazugehörige Vokabular geläufig ist.

Nun ist es mir aber doch ein Anliegen und das aus folgendem Grund: Kürzlich begegnete mir eine Werbung für ein Offline-Beschäftigungsbuch. Ich könnte mich jetzt fragen, weshalb mir diese Werbung angezeigt wird, aber ich habe wie gesagt keine Ahnung von diesen Algorithmen.

Das Offline-Beschäftigungsbuch ist für alle, die ihre Bildschirmzeit reduzieren und in der Offline-Ära ankommen wollen. Es verspricht mir Inspirationen, Bingo-Challenges, Rätsel und Sudokus, kreative Aufgaben, Listen oder Tracker.

Bisher habe ich mir die Offline-Ära eher so vorgestellt: Ich spaziere im Wald, beobachte Vögel, trinke Kaffee mit einer Freundin in einem gemütlichen Kaffee oder ich räume die Wohnung auf. Bingo-Challenges, Listen oder Tracker kamen da eher nicht vor. 

Dass es klug ist, die Bildschirmzeit zu reduzieren, dürfte mittlerweile so wenig überraschend sein wie die Information, dass Zucker kein gesundes Lebensmittel ist. Ich fürchte aber, ein Offline-Beschäftigungsbuch ist in etwa so sinnvoll wie Zuckerersatz. Die Abhängigkeit bleibt. Und die Unruhe auch.

Der Dezember ist prädestiniert für Unruhe. Hier noch eine Veranstaltung, da noch eine Advents-Challenge um sich besser zu fühlen (es muss ja nicht Bingo sein), etwas kaufen, etwas erleben, schließlich ist ja Weihnachten und dann kommen schon die Pläne für das neue Jahr. So hangelt man sich von einem Dopamin-Kick zum nächsten und verliert etwas ganz Wichtiges auf dem Weg: die Freude, einfach nur am Leben zu sein.

In der Yoga-Welt fühlen wir uns gerne nicht angesprochen, wenn es um diesen Teufelskreis geht. Wir gehen ja regelmäßig auf die Matte, um zur Ruhe zu kommen. Ich glaube aber, dass wir genauer hinschauen dürfen. Wie sieht unsere Achtsamkeitspraxis denn aus? In unserer Vorstellung und was tun (oder lassen) wir wirklich?

Wir sollen auf der Matte praktizieren, möglichst jeden Tag, selbstverständlich mit Pranayama und anschließender Meditation. Wir sollen uns gesund ernähren, Dankbarkeit praktizieren, reflektieren und unbedingt gut schlafen. Und das Journaling nicht vergessen. Und wenn wir das alles nicht oder nicht regelmäßig tun, haben wir zumindest ein schlechtes Gewissen. Achtsamkeitsstress hat viele Gesichter.

Als ob das nicht schon genug wäre, ist da immer noch ein neuer Trend verpackt in einen neuen Kurs, der uns immer noch tiefere Erfahrungen verspricht. Auf diese Versprechen ist unser Nervensystem programmiert, deshalb lassen wir uns auch so schnell in den Bann ziehen. Und schon haben wir neue Termine in der Agenda.

In der ayurvedischen Psychologie ist die individuelle Lebensfreude ein Grundpfeiler der Gesundheit. Lebensfreude kommt aus uns selbst und stellt sich ein, wenn wir im Einklang mit uns selbst leben. Um herauszufinden, wie das geht, braucht es meiner Erfahrung nach vor allem eines: die Abwesenheit von Unruhe.

Ich habe für mich noch einen weiteren wichtigen Schlüssel gefunden, gefunden, der mir immer wieder hilft, aus diesem Schlamassel herauszukommen. Ich muss aufhören, perfekt sein zu wollen. Das hört sich unfassbar trivial an, ist es aber nicht. Ich gehöre zu den Menschen, die oft schon an der Atembeobachtung scheitern, weil ich es so besonders gut machen will.

Perfektion gaukelt uns Sicherheit vor, und Letztere gibt es bekanntlich nicht. Perfektion ist die Tür zu diesem Teufelskreis, immer besser werden zu wollen. Und sie macht hungrig.

Ich habe deshalb genau einen Plan für die Weihnachtstage und der besteht darin, keine Pläne zu haben und vor allem keine Pläne zu machen. Ich werde mich darüber freuen, dass ich das Jahr weitgehend unbeschadet überstanden habe, meinen kleinen Abstand zur Welt genießen und mir das eine oder andere Katzenvideo anschauen. Und vielleicht einmal am Tag die Wechselatmung praktizieren ;-).

In diesem Sinne wünsche ich euch allen ein friedvolles, entspanntes und freudiges Fest!

Marion Völger

www.silentmoves.blog

Weiter
Weiter

Stille beginnt, wo das Suchen aufhört